Schuld währt ewig
entgangen ist.«
35
Sanne schob die Begegnung mit Evelyn und Nils in eine Kammer ihres Gedächtnisses und machte die Tür zu. Es war mehr, als sie ertragen konnte. Jedenfalls heute. So schaffte sie es, heil nach Hause zu kommen. Doch daheim ertrug sie die Stille in ihren vier Wänden nicht. Etwas trieb sie wieder nach draußen. Sie machte einen langen Spaziergang durch die Dunkelheit, über umgepflügte Felder und müde Wiesen, folgte dem hellen Band des Kieswegs, doch Ruhe fand sie nicht.
Als sie wieder auf den Weg zum Gut einbog, bemerkte sie Licht in Lauras Wohnzimmer. Am liebsten hätte sie geklingelt und sich bei ihr etwas Trost geholt und vor allem Worte, die erdeten und diese ungreifbare Angst vertrieben. Doch durch das Panoramafenster sah sie Klaus. Er war schon aus Wasserburg zurück. Die beiden saßen beim Essen. Sisco sprang auf den Stuhl und schielte erwartungsvoll auf die gefüllten Teller. Sanne wollte nicht stören und ging weiter.
Als sie in der Manteltasche nach dem Schlüssel suchte, hörte sie Schritte hinter sich. Domegall erschien mit Hamlet auf dem Weg, den sie gerade gegangen war. Hatte auch er einen Spaziergang gemacht? War er ihr gefolgt? Natürlich war der Hund nicht angeleint, und natürlich kam er sofort angelaufen. Unwillkürlich spannte sie alle Muskeln an und hob die Hände hoch bis zur Brust.
»Hamlet. Bei Fuß.«
Gott sei Dank folgte der Hund. Sanne ließ die Hände sinken. Es sah ja auch zu albern aus. Domegall trat in den Lichtkegel. Er trug eine dicke Winterjacke, Mütze und Handschuhe. Sehr vernünftig. Ihre Hände waren halb erfroren, genau wie ihre Ohren, die sich beinahe taub anfühlten. Außerdem raste ihr Herz vor Schreck. »Könnten Sie vielleicht Ihren Hund mal an die Leine nehmen?«
Domegall reagierte nicht darauf. »Ich habe Sie grad auf dem Feldweg gesehen. Das sollten Sie nicht machen.«
»Was? Was sollte ich nicht tun? Spazieren gehen etwa?«
»Sie sollten das nicht alleine tun. Jedenfalls nicht über die Felder und vielleicht auch noch durch den Wald laufen. Bei Dunkelheit. Allein. Oder, wenn es schon sein muss, dann mit einem ausgebildeten Hund, der Sie notfalls verteidigen kann.«
Weshalb machte er ihr Angst? Wie kam er dazu? »Wollen Sie etwa Bodyguard spielen? Danke! Mischen Sie sich nicht in mein Leben. Ich gehe spazieren, wann und wo es mir passt. Und zwar alleine!«
Domegall zuckte die Schultern. »Wenn Sie meinen, sich mit giftigen Worten verteidigen zu können … Ich würde mir wenigstens ein Pfefferspray besorgen. Komm, Hamlet. Du bekommst jetzt einen schönen Knochen und ich ein Glas Rotwein.« Er wandte sich ab. Der Hund folgte ihm. Sanne sperrte die Haustür auf.
»Rotwein ist gut für die Nerven«, rief Domegall, vor seiner Tür stehend, herüber. »Haben Sie Lust auf ein Glas? Es würde Ihnen guttun.«
Was sollte das jetzt werden? War ihre Botschaft nicht klar genug gewesen? Sie wollte nichts mit ihm zu tun haben. »Danke. Wenn ich mich betrinke, dann mache ich das ebenfalls allein.«
Domegall lachte. »Sie sind wirklich die unfreundlichste Nachbarin, die ich je hatte. Gute Nacht.« Er verschwand im Haus, Hamlet folgte ihm. Die Tür schlug zu.
Sanne trank natürlich keinen Wein. Sie kochte sich eine ganze Kanne Schlafwohltee, sah im Fernsehen zwei Folgen einer unsäglichen Serie und dann noch eine Talkshow, um nicht weiter über diesen unerfreulichen Tag nachdenken zu müssen. Kurz vor Mitternacht ging sie zu Bett.
Der Tee entfaltete nicht die erhoffte Wirkung. Schlaflos wälzte sie sich im Bett. Bilder, Schemen, Wortfetzen taumelten durch die Dunkelheit. Verbrecherin! … Irgendwann wirst du dafür bezahlen! … Ich will nicht schlafen! … Du bist keine Befehlerin! … Ihre Hand an Ludwigs Fußknöchel. Ein Plumpsen in die Kissen … Noch mal! Noch mal! Noch mal! … Ein Fadendünnes Rinnsal Blut … Ihre Hand auf der Türklinke.
Keuchend warf Sanne sich auf die Seite, zog die Decke über sich. Noch mal! Noch mal! Noch mal!
Stöhnend sprang sie aus dem Bett. Warum hörte das nicht auf! Warum ließen ihre Träume ihr keinen Frieden!
Sie hielt das nicht aus!
Was hatte sie nur getan, in den Sekunden, an die sie sich nicht erinnern konnte?
Sie hatte doch nicht …
Ihre Hand auf der Türklinke! Sie hatte doch da gelegen?
Sanne machte Licht, zerrte die Jeans über die Beine, zog den Pulli über den Kopf, griff nach dem Autoschlüssel.
Sie hatte doch nicht …
Die Haustür schlug hinter ihr zu. Der Motor heulte auf. Ihre
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