Schuld währt ewig
musste sich setzen. Etwas schnürte ihr die Kehle zu, brachte ihr Herz zum Rasen.
»Ist alles in Ordnung mit dir?«
»Ja. Geht schon«, brachte sie schließlich heraus.
»Thorsten geht zur Beisetzung. Deshalb gehe ich nicht. Ich will ihm nicht begegnen. Das verstehst du sicher. Gehst du?«
Thorsten hatte das gewusst! Als er bei ihr gewesen war, hatte kein Wort darüber verloren.
»Vielleicht. Sag mal, Lydia, dass Jens tot ist, das weißt du doch.«
»Natürlich.«
»Denkst du, das hängt mit der Gruppe zusammen?«
»Wie kommst du denn auf diese Idee? Jens war doch nur zwei- oder dreimal dabei und Martina nicht öfter. Ich hab jetzt keine Zeit. Gleich kommt die erste Patientin.« Bevor sie weitere Fragen stellen konnte, beendete Lydia das Gespräch.
Sanne legte den Hörer auf. Vielleicht hatten der Tod von Jens und Martina nichts miteinander zu tun. Vielleicht war das nur ein furchtbarer Zufall.
Martina. Eine hübsche Frau mit dunklen Haaren und sanften Augen. Sie hatte sich mit Selbstvorwürfen gequält.
Genau wie sie selbst.
Sanne folgte ihrer inneren Stimme, die ihr riet, zu Martinas Beisetzung zu gehen, und stieg kurz vor zwölf in die S-Bahn Richtung Innenstadt. Während der Rushhour wäre Sanne mit dem Auto gefahren, trotz der kilometerlangen Baustelle auf dem Mittleren Ring, die noch bis Ende des kommenden Jahres für Staus sorgen würde. Überall dort, wo sich viele Menschen aufhielten, musste sie nicht sein. In Menschenmengen bekam sie Panikattacken. Doch mittags waren die S- und U-Bahnen erträglich leer.
Am Friedhofseingang gab es einen Blumenstand. Dort kaufte sie eine Rose und ging zur Trauerhalle. Zwischen den Wolken blitzte ab und zu ein Fetzen blauer Himmel hervor. Der Wind war eisig, zog an Haaren und Mantel und trieb ihr die Tränen in die Augen.
Die Zeremonie hatte bereits begonnen. Leise trat sie ein, setzte sich in die hinterste Reihe und lauschte Reden und Musik. Dabei ließ sie ihren Blick über die Menge der Trauernden gleiten und entdeckte Thorsten, der etwas weiter vorne am äußeren Rand neben Uli saß.
Die Feier ging zu Ende. Stühle wurden gerückt. Sanne trat als eine der Letzten an den Sarg, legte die Rose ab und kondolierte Martinas Eltern. Ein Gefühl von Unwirklichkeit begleitete sie dabei.
Als sie die Trauerhalle verließ, warteten Thorsten und Uli auf sie. Er berührte sie am Arm. »Ich habe dir nichts gesagt, damit du dich nicht beunruhigst, und nun hast du es doch erfahren. Es tut mir leid.«
Rücksichtnahme war also der Grund für sein Schweigen. Irgendwie war das nett. Doch andererseits war sie nicht krank. Sie musste nicht geschont werden. Eine leichte Gereiztheit stieg in ihr auf. »Das ist lieb von dir. Aber ich verkrafte das.«
»Hallo, Sanne.« Uli schob ihre Hände in schwarze Wildlederhandschuhe. Wie meistens war sie praktisch gekleidet. Schwarze Jeans, Rollkragenpullover, Steppjacke. Die dunklen Haare verbarg heute eine Mütze. »In der Halle war es ja ganz schön kalt. Sollen wir uns irgendwo bei einem Kaffee aufwärmen?«
Sanne war auch ganz durchfroren. »Gerne.«
»Im Prinzip ja.« Thorsten sah auf die Uhr. »Ich habe nur eine halbe Stunde Zeit. Meine Schicht beginnt um halb vier.«
Während sie den Friedhof Richtung Ausgang durchquerten, kam das Gespräch unweigerlich auf Martina und Jens. Thorsten sagte, dass die Kripo in beiden Fällen bisher anscheinend keine Spur hatte.
»Ob die den Zusammenhang überhaupt schon erkannt haben?«, fragte Sanne. »Ich meine, dass Jens das Kind ins Auto gelaufen ist, das ist fünf Jahre her.«
Thorsten hakte sich bei ihr ein. »Seine Frau wird das sicher nicht verschwiegen haben. Und ich glaube auch nicht, dass Jens starb, weil jemand den Rächer gibt.«
»Nicht?« Für Sanne war das eigentlich offensichtlich.
»Vielleicht war Jens in krumme Sachen verwickelt«, erwiderte Thorsten. »Das letzte Objekt, das er gebaut hat, dieses Einkaufszentrum … daran sind ukrainische Investoren beteiligt. Da flossen sicher Schmiergelder. Mach dich also nicht verrückt, Sanne.«
Langsam ging ihr Thorsten auf die Nerven. Er behandelte sie wie eine Kranke, die sich in unsinnige Gedanken verstrickte. »Wieso denkst du, ich mache mich verrückt?«, fuhr sie ihn an.
»Weil du glaubst, dass jemand Leute umbringt, die in irgendeiner Form am Tod eines anderen beteiligt waren und dafür nicht bestraft wurden, und dass du auf der Liste desjenigen stehen könntest. Oder?« Lächelnd sah er sie an.
Sie atmete durch. Okay. So ganz
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