Schuld währt ewig
benutzte den Schlüssel, trat ein und nahm sofort einen schwachen Leichengeruch wahr. Im Flur brannte Licht. Die Tür zum Bad stand offen. Dort lag sie nicht. Die Jalousien in Küche und Wohnzimmer waren heruntergelassen. Überall waren die Lichter eingeschaltet.
Er fand sie im Schlafzimmer auf dem Bett liegend, als sei sie dort gesessen und einfach hintenübergekippt. Offene Augen starrten zur Decke. Das Kinn war heruntergeklappt, der Mund weit geöffnet. In einem Augenwinkel saß eine Stubenfliege.
44
Dr. Ursula Weidenbach reichte Dühnfort die Blisterpackung eines Herzglykosids, die ursprünglich zwölf Tabletten enthalten hatte, jetzt aber leer war und auf dem Teppichboden neben dem Bett gelegen hatte. »Wenn sie davon zu viel genommen hat, ist sie an Herzrhythmusstörungen gestorben. Ich vermute eine ventrikuläre Tachykardie mit Kreislaufkollaps und anschließendem Herzstillstand. Morgen weiß ich mehr.«
Dühnfort steckte den Blister in einen Spurenbeutel.
»Falls das ein Selbstmord sein sollte, dann ein ungewöhnlicher.«
»Wir gehen nicht davon aus, dass sie die Tabletten freiwillig genommen hat. Gibt es Spuren von Gewaltanwendung?«
»Das werden wir gleich wissen.« Weidenbach schnitt die Kleidungsstücke von der Leiche und bat Dühnfort, ihr beim Umdrehen zu helfen. Dafür musste sie die voll ausgeprägte Leichenstarre an den großen Gelenken brechen. Die alte Frau war schwer. Der Geruch nach Urin und Exkrementen wurde stärker, als sie die Tote anhoben. Bei Eintritt des Todes entleerten sich Darm und Blase. Dühnfort bemühte sich, möglichst flach zu atmen, während Weidenbach der Toten die letzten Kleidungsstücke abstreifte, bis der Körper bloß vor ihnen lag. Eine wellige Lebenslandschaft, voller Falten und Dellen, bleich wie Abendnebel und von der Zeit jeder Schönheit beraubt.
Weidenbach untersuchte die Hautoberfläche. »Keine sichtbaren Verletzungen.«
Dühnfort fuhr aus seinen Gedanken hoch.
»Vielleicht wurde sie mit vorgehaltener Waffe gezwungen, die Tabletten einzunehmen.« Weidenbach schob die Brille, die ihr den Nasenrücken hinuntergerutscht war, wieder hinauf.
Die Vorstellung, der Täter könnte bewaffnet sein, gefiel Dühnfort nicht. Er wandte sich ab und begann nach einer Postkarte zu suchen. Dabei ging er Buchholz im Wege um, der grantelnd seinem Missfallen Ausdruck verlieh.
Dühnfort fand die Karte nicht. Auch nicht im Abfall. Weder im Papierkorb noch im randvollen Müllbeutel, den er aus dem Behälter unter dem Spülbecken zog, und ebenso wenig im Abfallbehälter im Badezimmer, der ebenfalls geleert gehörte.
Er überließ der Spurensicherung das Feld. Im Treppenhaus sah er aus dem Fenster und beobachtete die Schutzpolizisten, die unter der Führung von Alois mit der Nachbarschaftsbefragung begannen. Im Haus gingen sie bereits von Tür zu Tür.
Weshalb fehlte die Postkarte? Offenbar war sie bei Martina die Ausnahme gewesen. In einem anderen Punkt bestätigte sich allerdings ihre Theorie: Der Täter wählte seine Opfer nach den vermuteten Kriterien aus und tötete sie auf dieselbe Weise, auf die sie in den Tod eines anderen verstrickt waren.
Wie fand er seine Opfer? Der Name Hasler stand nicht auf der Teilnehmerliste der Selbsthilfegruppe. Beim Tod von Margarethe Haslers Enkelin war nicht das KIT von Neumeier im Einsatz gewesen, sondern das des ASB . Was bei Flade und Martina passte, passte bei Hasler nicht.
Der Abgleich der Personaldaten beider KIT s musste schnellstmöglich vorangebracht werden. Gab es personelle Überschneidungen? Dühnfort rief Alois an und bat ihn, die Nachbarschaftsbefragung abzugeben und mit seiner Gruppe den Datenabgleich voranzutreiben. Wieder einmal bekam er als Antwort ein lang gezogenes Okay .
Drei Tote. Es war Zeit, Alexander Boos mit seinen Fallanalytikern in die Ermittlungen miteinzubeziehen. Aber vorher musste er mit Lydia van Gierten sprechen. Ihre Nummern hatte er eingespeichert.
Nachdem er es in der Praxis und in der Wohnung versucht hatte, erreichte er sie auf dem Mobiltelefon. »Sagt Ihnen der Name Margarethe Hasler etwas?«
»Hasler? Hm, so spontan fällt mir nichts dazu ein.«
»Eine ältere Frau. Ihre Enkelin starb vor vier Jahren, nachdem sie irrtümlich das Herzmedikament ihrer Oma eingenommen hatte.«
»Nein. Ich glaube nicht.«
»Auf der Mitgliederliste der Gruppe steht sie nicht. Vielleicht war sie Patientin oder hat an einem Gesprächskreis teilgenommen.«
Ein Seufzer klang durchs Telefon. »Meine Patientendaten
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