Schuld währt ewig
unauffällig und angepasst unter ihren potenziellen Opfer gelebt hatten.
»Ich denke, es wäre besser, wenn Sie mit Ihrem Arzt sprechen. Ich rufe ihn jetzt an. In Ordnung?«
Wieder ein Schulterzucken. Dühnfort griff nach dem Rezept, auf dem sich ein Stempel mit Adresse und Telefonnummer des Arztes befand, ging in den Flur und schilderte Dr. Friedrich Dahlberg, welchen Eindruck Heitmann auf ihn machte, dass seiner Meinung nach ein Suizidversuch nicht auszuschließen war. Es wäre nicht der erste, meinte Dahlberg.
Zehn Minuten später verließ Dühnfort gemeinsam mit Heitmann das Haus. Das Taxi, das ihn zu seinem Arzt bringen würde, wartete bereits.
Vom Auto aus versuchte Dühnfort Margarethe Hasler zu erreichen. Vergeblich. Bis zur Aidenbachstraße, wo sie wohnte, war es nicht weit. Dühnfort entschloss sich, dorthin zu fahren.
Regen pladderte auf die Windschutzscheibe. Eine rote Ampel. Bremslichter leuchteten auf. Aus seinem Mantel stieg eine muffige Erinnerung an Heitmanns Wohnung. Dühnfort öffnete das Seitenfenster einen Spaltbreit.
Wie lebte man mit einer schuldlosen Schuld? Heitmann hätte seine Freundin nicht retten können. Er wäre selbst gestorben. Doch die Selbstvorwürfe blieben. Der Tod schien verlockender, als mit dieser Qual zu leben.
Plötzlich waren sie wieder da. Diese Bilder. Diese Erinnerungen! Wirbelnde Gischt, Blasen vor seinem Gesicht, der Druck auf seiner Lunge, die Gier zu atmen. Er spürte die Kraft, die ihn in die Tiefe des Sees zog, fühlte die Kälte, die sich in seine Glieder fraß, und sah Ginas Schokoladenaugen. Er atmete durch, versuchte sich auf die Gegenwart zu konzentrieren.
Sie hatte ihn gerettet. Gemeinsam mit dem Schorsch. Ich wäre lieber mit dir gestorben, als ohne dich zu leben. Das hatte sie gesagt. Plötzlich verachtete er Heitmann, der diesen Mut nicht aufgebracht hatte, und fühlte sich im selben Moment schäbig. Es stand ihm nicht zu, über ihn zu urteilen. Keiner wusste, wie er sich in einer derartigen Situation verhalten würde.
Die Ampel schaltete auf Grün. Einige Minuten später stoppte er in einer Parkbucht unter kahlen Bäumen. Ein weiterer schmuckloser Wohnblock. Tiefgarage. Hinterhof mit Müllcontainern. Vier Etagen. Glasbausteine im Eingangsbereich. Den Namen Hasler entdeckte er auf dem Klingelbord im ersten Stock. Er betätigte den Knopf. Nichts rührte sich. Dühnfort probierte den daneben. Mittermüller. Der Summer an der Eingangstür ertönte.
Im Treppenhaus roch es nach Essen. Er stieg in den ersten Stock. Eine Wohnungstür wurde geöffnet. Die Frau, die einen Blick ins Treppenhaus warf und ihn dann verwundert ansah, trug Jeans und Sweatshirt. »Haben Sie geklingelt?«
»Ich will zu Frau Hasler. Aber sie öffnet nicht. Wissen Sie, wo sie ist?«
»Keine Ahnung. Normalerweise ist sie daheim. Sie geht nie viel aus. Weshalb wollen Sie das wissen?«
Er zog seinen Dienstausweis aus der Tasche. »Eine Routinebefragung.« Hinter ihr ertönte die Klingel. Sie trat einen Schritt zurück und betätigte den Türöffner. »Eigentlich müsste sie daheim sein. Einkaufen geht sie immer gleich in der Früh. Aber jetzt, wo Sie fragen … Ich habe heute noch nichts von ihr gehört oder gesehen.« Schritte klangen durchs Treppenhaus. Ein etwa achtjähriger Junge kam nach oben. Er trug Anorak, Mütze und Handschuhe und auf dem Rücken einen bunten Schulranzen. »Tim. Da bist du ja.«
»Hallo, Mam.«
»Wie war es in der Schule?«
»Passt schon.«
»Geh schon mal rein. Ich komme sofort.« Nach diesen Worten trat sie vor, beugte sich über das Treppengeländer und spähte hinunter auf den Vorplatz im Erdgeschoss. »Komisch. Ihre Zeitung steckt noch im Briefkasten«, sagte sie an Dühnfort gewandt. »Die holt sie immer als Erstes rauf. Manchmal schon um halb sechs in der Früh.«
Innerhalb eines Sekundenbruchteils stellte sich das Gefühl ein, zu spät zu kommen.
»Haben Sie einen Schlüssel für die Wohnung?«
Frau Mittermüller nickte. »Sicherheitshalber hat sie mir einen gegeben. Falls sie sich mal aussperrt.«
Dühnfort ließ ihn sich aushändigen. Tim, der inzwischen Anorak und Mütze ausgezogen hatte, trat neben seine Mutter und musterte ihn neugierig.
»Ich glaube, es ist besser, wenn Sie mit Ihrem Sohn hineingehen.«
Instinktiv umfasste sie die Schultern des Jungen und blickte Dühnfort fragend an. Er sah die Beunruhigung in ihren Augen.
Erst als sie die Wohnungstür schloss, klopfte er bei Frau Hasler. Hinter der Tür blieb es still. Er
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