Schuld währt ewig
alleine.«
Über fünf Jahre schon. Manuel hatte sich nach Ludwigs Tod bemüht, sie zu trösten, ihr die Schuldgefühle auszureden, und irgendwann hatte er es nicht mehr ausgehalten und sich von ihr getrennt. Ich erkenne dich nicht wieder. Du bist nicht mehr die Susi, die du mal warst.
In der Tat.
Die Susi war sie nicht mehr.
»Ich hole Nachschub. Oder?« Thorsten stand auf.
Nachschub? Was meinte er? Den Wein? Die Flasche war tatsächlich schon leer. Sanne fühlte sich gut. Wohlig und total entspannt. Zwei Gläser Wein. Das war genug. Sie legte ihre Hand übers Glas, als Thorsten mit der neuen Flasche aus der Küche kam und nachschenken wollte. »Für mich nicht mehr.«
Er füllte seines, zog den Sessel näher ans Sofa heran und setzte sich. Weshalb wechselte er den Platz? Aber eigentlich war ihr das recht. So konnte sie die Beine ausstrecken. Die Musik war schön, irgendwie schwebend. So ruhig und ausgeglichen, so gelöst hatte sie sich lange nicht mehr gefühlt. Wenn das am Wein lag, dann sollte sie sich allerdings nicht daran gewöhnen. Obwohl sie normalerweise anders auf Alkohol reagierte. Er stieg ihr schnell zu Kopf, machte sie zuerst albern und dann müde, bleiern. Heute fühlte sie sich jedoch leicht und unbeschwert, irgendwie offen, abwartend. Als könnte in dieser Nacht alles geschehen. Ihr Leben sich in eine andere Richtung drehen. Zum Guten oder zum Schlechten. Bei diesem Gedanken fuhr sie zusammen und griff nun doch nach dem Glas, das Thorsten inzwischen halbvoll geschenkt hatte.
Er fing wieder von dem Streit an, wie er ihr vorgeworfen hatte, sich selbst zu bestrafen. Es tat ihm leid. Doch er hatte eine Wahrheit ausgesprochen.
Konnte er das Thema nicht endlich ruhen lassen? Bisher war der Abend so schön gewesen. Sanne schloss die Augen, hätte aber am liebsten die Ohren geschlossen. Leise drangen seine Worte in sie. Und plötzlich erkannte sie, dass er recht hatte. Sie bestrafte sich selbst. Wenn sie ehrlich zu sich war, gestand sie sich nicht zu, glücklich zu sein. Denn dann würde das Schicksal zuschlagen, würde die Waagschalen ins Gleichgewicht bringen. Ludwig war tot. Für immer und ewig. Er war schon länger tot, als sein Leben gewährt hatte. Wie konnte sie das Leben genießen? Wenn sie das tat, wäre es, als tanze sie auf seinem Grab.
Thorstens Hand legte sich auf ihre. Warm, fest, vertraut. »Sanne. Erinnerst du dich, als wir vor zwei Jahren auch so hier gesessen sind? Lydia war bei einem Workshop. Wir haben gekocht.«
Und ob sie sich erinnerte. Sie musste plötzlich kichern. »Natürlich. Mir ist es gelungen, die Tomatensoße anbrennen zu lassen. Was heißt anbrennen? Verkohlen. Eine schwarze Schicht klebte im Topf.«
»Genau. Wir haben nackte Nudeln gegessen. Mit Salz und Olivenöl und Parmesan.«
»Und dabei haben wir uns so auf die Nachspeise gefreut. Du hattest Panna cotta gemacht, und dann ist dir die Schüssel heruntergefallen und zerbrochen. Tausend Scherben und Splitter. Das Dessert fiel aus. Ein total verunglücktes Essen.« Noch immer lachte Sanne bei dieser Erinnerung, die so lebendig vor ihr stand. Beinahe konnte sie die angebrannte Soße riechen, das Bersten der Schüssel auf dem Fliesenboden hören. Sie hatte wirklich zu viel von diesem Wein intus.
»Wir haben Kaffee gemacht und dann Rotwein getrunken …«
»Zuerst draußen auf der Terrasse. Es war eine warme Sommernacht. Ich erinnere mich. Sehr gut. Der Jasmin im Nachbargarten hat geblüht. Der Duft lag in der Luft. Warum fragst du?«
»Als es kühler wurde, sind wir ins Wohnzimmer umgezogen. Du aufs Sofa. Ich hier in den Sessel. Wir haben zwei Flaschen gekillt.« Seine Stimme wurde ernst. »Und irgendwann hast du es mir erzählt.«
Ein unangenehmes Gefühl breitete sich in Sanne aus. »Was habe ich dir erzählt?«
»Du hast mir erzählt, was an dem Abend passiert ist, als Ludwig starb.«
Das konnte nicht sein. Das war nicht wahr. Was sollte das? Blei legte sich in ihren Magen. »Das ist nicht wahr. Ich weiß nicht, was geschehen ist. Ich kann mich nicht erinnern.« Sie wollte aufstehen, gehen. Der Fluchtimpuls wurde übermächtig. Doch sie konnte sich nicht bewegen. Thorstens Hand auf ihrer schien sie daran zu hindern. Er sah ihr in die Augen, soweit das in diesem Zwielicht ging.
»Doch, Sanne. Es ist wahr. Du hast es mir erzählt, und das weißt du, auch wenn du dich sofort wieder ins Verdrängen geflüchtet hast.« Seine Stimme war leise, eindringlich, lähmte sie, fesselte sie, hinderte sie
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