Schuld war nur die Badewanne
Rolf sich erinnert, »ein wunderbares Geschenk. Stundenlang bin ich mit dem Finger über die Meere gefahren, habe mich durch Urwälder gequält und sämtliche hohen Berge bestiegen. In Geografie hatte ich auch immer eine Zwei.«
Das glaube ich ihm gern. Auf diesem Gebiet ist er wirklich fit. Als ich unlängst wissen wollte, wo die Kapverdischen Inseln eigentlich liegen, konnte er es mir sofort sagen. Ich hatte sie ganz woanders gesucht.
In der Erwartung, sein Erstgeborener würde seine Interessen teilen, kaufte der stolze Vater seinem Sohn ebenfalls einen Atlas, sogar einen besonders großen. Sven freute sich auch scheinbar darüber, schrieb in der nächsten Erdkundearbeit eine Vier und erwiderte auf die sanften Vorwürfe seines Vaters, er habe sich natürlich schon intensiv mit dem Atlas beschäftigt, nur nicht gerade mit der Oberrheinischen Tiefebene, und eben die sei drangekommen.
Wenige Tage darauf wagte ich mich wieder einmal in sein Zimmer – das tat ich nur dann, wenn ich richtig gute Laune und dadurch auch eine höhere Toleranzschwelle hatte –, hob als Erstes den auf dem Boden liegenden aufgeschlagenen Atlas hoch und wusste endlich, auf welche Weise Sven sich mit dem teuren Stück beschäftigte. Den australischen Kontinent hatte er mit lauter Kängurus und Koalabären verziert, in Afrika tummelte sich eine ganze Menagerie, Amerika war von Indianern, Cowboys, Pferden, Büffeln und Koyoten bevölkert, doch in Asien schien es nur schlitzäugige Menschen zu geben. Aber vielleicht war er mit der Besiedlung nur noch nicht fertig geworden, die angefangene Miniaturzeichnung eines Tigers ließ hoffen. Über den Nordpol spazierten Eisbären, am Südpol saßen Pinguine, und weil es ja zwischen den Kontinenten viel Wasser gibt, man kleinere Fischarten aber so schwer auseinanderhalten kann, hatte Sven sich auf Wale und Robben beschränkt. Über die freien Flächen fuhren Schiffe jeder Größe.
Lediglich Europa schien ihm Kopfzerbrechen zu machen. In Frankreich entdeckte ich zwar Asterix und Obelix, in Deutschland einen bärtigen Germanen mit Keule, doch die übrigen Länder waren noch nicht bevölkert. Vom Vater zur Rede gestellt, erklärte der Knabe, Atlanten sähen immer so langweilig aus, und er habe seine Bilder nur dorthin gemalt, wo es keine großen Städte gäbe. »Die müssen wir immer auswendig lernen. Die Namen von langen Flüssen kommen ja öfter vor, und die kleinen brauche ich sowieso nicht. Du musst doch zugeben, Papi, dass es jetzt richtig Spaß macht, in dem Atlas zu blättern.«
Papi gab es zu, meinte jedoch, er hätte lieber einen kleineren kaufen sollen, in dem nicht jedes Land zwei Seiten umfasse.
So viel zu den »besonderen Geschenken«. Als ich fünfzig wurde, erschöpfte sich die Phantasie meiner Nachkommen noch in einer selbstgebackenen, sehr liebevoll dekorierten Torte, auf der auch die richtige Anzahl von Kerzen prangte. Nur war die Torte ein bisschen zu klein geraten, die Lichtlein steckten sehr eng nebeneinander, durch die Hitze verbogen sie sich, das Wachs tropfte munter auf die Glasur, und erst nachdem wir die oberste Schicht abgekratzt hatten, konnten wir den Kuchen essen.
Nun stand mir wieder so ein Jubeltag bevor, und ich ahnte, dass ich diesmal nicht so glimpflich davonkommen würde. Nicht umsonst hatte ich mit einiger Besorgnis die Fotos in Hannes’ Büro beguckt, aufgenommen am 60 . Geburtstag seiner Mutter. Da war eine Blaskapelle in der Halle aufmarschiert, der dritte Bürgermeister war zum Gratulieren erschienen, und auch sonst hatte sich so einiges getan, was an normalen Geburtstagen unüblich gewesen wäre.
Ein Geschäft führe ich nicht, wir sind auch nicht in der vierten Generation hier ansässig, und der hiesige Posaunenchor kommt freiwillig immer erst dann, wenn man achtzig wird. Aber man kann ihn auch mieten!!! (Später habe ich erfahren, dass mir noch Schlimmeres bevorgestanden hätte: Hannes hatte bereits den Dudelsackpfeifer angeheuert gehabt, der sonst in der Heidelberger Fußgängerzone tutend herumspaziert. Er bleibt nie stehen, was ja auch verständlich ist, denn bewegliche Ziele sind schwerer zu treffen!)
Nun hatte ich ohnehin beschlossen, dem zu erwartenden Auftrieb durch rechtzeitige Flucht zu entgehen. Mehrmals hatte ich zu spätabendlicher Stunde, wenn die Gefahr etwaiger Mithörer gebannt war, mit Irene konferiert, und gemeinsam hatten wir nach einem Asyl gesucht, das nicht zu entfernt, doch immer noch weit genug weg sein würde, um mögliche
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