Schuld war nur die Badewanne
seine provinziellen Grenzen hinaus bekannt, und zwar wegen des Schiffshebewerks. Normale Schleusen kennt jeder, die haben fast alle Kanäle, auf denen Schiffe verkehren, seien es nun Ausflugsdampfer oder Lastkähne. Damit gleicht man Höhenunterschiede aus. Das Schiff fährt in die Schleuse hinein, die wird geschlossen, dann wird Wasser je nach Bedarf rein- oder rausgepumpt, das Schleusentor geht wieder auf, und das Boot kann weiterfahren. Das hatten wir nicht nur in der Schule gelernt, sondern auch in natura an der Havel beobachten müssen, und folglich hatte ich die ganze Sache in vollem Umfang begriffen.
Nicht so ein Schiffshebewerk! Dessen Funktion hat was mit Archimedes zu tun, und der ist mir schon immer suspekt gewesen. Auf alle Fälle ist so ein Hebewerk etwas nicht Alltägliches, angeblich gibt es in Deutschland nur drei davon, aber das von Eberswalde-Finow ist das älteste. Man begegnet ihm auch ständig, und sei es nur in Form von Hinweisschildern.
Die Stadtbibliothek von Eberswalde befindet sich in der Goethestraße. Nomen est omen! Dass ihre Leiterin ausgerechnet Schiller hieß, war Zufall und ihre Berufung nicht etwa einer Marketingstrategie zu verdanken. Ihr Vorname lautete denn auch nicht Friederike, sondern schlicht und einfach Inge. Beigeordnet war ihr eine Frau Schmitt. Schmitt mit Doppel-T. Vorname Edeltraud.
Frau Schmitt war Mitte zwanzig, leicht übergewichtig, lebhaft, kontaktfreudig, und dass sie während des Erzählens immer wieder in den Berliner Dialekt verfiel, machte sie mir sofort sympathisch. »Ich bin Ihr Kindermädchen«, klärte sie mich gleich nach der Begrüßung auf. »Sie sehen ja nich so aus, als ob Sie eens brauchen, aba ick bin wenigstens ortskundig, und ehe Sie nu mit’n Stadtplan durch de Jejend irren … Ham Se uns denn jleich jefunden?«
»Gleich nicht, aber bald«, sagte Nicki.
»Ja, gleich nach dem fünften Mal fragen«, ergänzte ich.
»Ebent! Deshalb bringe ick Sie ooch erst mal zu Ihrer Unterkunft. Die liegt so’n bisschen versteckt oben am Wald, aba nur, wenn man den Weg nich kennt.« Bevor sie sich neben Nicki auf die Beifahrerseite setzte, erkundigte sie sich besorgt: »Sie wissen doch, dass Sie privat wohnen? Hotels ham wir nämlich noch nich.«
Ich erzählte begeistert von Frau Löwe und ihrer Ferienwohnung und dann von der Hotelkaserne in Gramzow. »Ich wohne sowieso lieber privat als in diesen funktionellen, unpersönlichen Bettenburgen.«
»Na, denn wird Frau Schiller aba froh sein. Sie hatte doch richtig Angst, det Ihnen der gewohnte Komfort und det janze Drumherum fehlen wird.«
Bevor ich fragen konnte, was sie mit »Drumherum« meinte, dirigierte sie Nicki in eine steil aufwärts führende Straße. »Die bis kurz vors Ende und denn rechts einbiegen! Aba vorher schalten Sie am besten in den ersten Gang zurück!«
Ein weiser Ratschlag. Kopfsteinpflaster ist ohnehin nicht sehr autofreundlich, Kopfsteinpflaster mit zusätzlichen Schlaglöchern schadet nicht nur Stoßdämpfern, sondern auch Wirbelsäulen. Nur gibt es für letztere keine Ersatzteile. Der miserable Belag dieser relativ kurzen Straße war aber auch das Einzige, was an den früheren Materialmangel noch erinnerte, denn die Häuser auf beiden Seiten, ausnahmslos Vorkriegsmodelle, hatten sich schon richtig herausgeputzt. Bei ihnen gab es keine notdürftig geflickten Dächer mehr, keine verfallenen Treppen und schon gar keine abblätternde Farbe. In verschiedenfarbigen Pastelltönen strahlten die Fassaden mit den Vorgartenblumen um die Wette, sogar die Gartenzäune sahen aus, als würden beim Berühren die Finger noch am frischen Anstrich kleben bleiben.
»Da drüben das weiße isses!« Frau Schmitt deutete auf ein Haus mit verschnörkeltem Giebel, mit Erker nach vorne und Wintergarten an der Seite. »Am besten fahrn Sie bis zum Ende der Straße und wenden da. Sonst stehn Sie auf der falschen Seite, und nachher müssen Sie sowieso wieder hierher zurück, da hinten is Einbahnstraße.«
Offenbar hatten wir es mit einer Autofahrerin zu tun. Wenn man sich nämlich in einer fremden Stadt von einem Fußgänger den Weg beschreiben lässt, steht man irgendwann vor einer Einbahnstraße, die natürlich in die entgegengesetzte Richtung führt, oder vor einer Sackgasse, aus der man hinten nur über eine Treppe wieder rauskommt. Nicht umsonst erkundige ich mich am liebsten bei jemandem, der an einer Zapfsäule gerade sein Auto auftankt; vorausgesetzt natürlich, sein Nummernschild weist ihn als
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