Schulden ohne Suehne
ersten zwei Krisenjahren im Zusammenhang mit den Spar- und Reformauflagen gegenüber den Krisenstaaten aufgetreten. Britische Zeitschriften bezichtigten Deutschland, es wolle über eine europäische Wirtschaftsregierung ein »Viertes Reich« errichten. 125 Die Financial Times berichtet über griechische Demonstranten, die aus der Bank of Greece die »Bank of Berlin« machen, über eine Zeitung, die Angela Merkel in einer Nazi-Uniform zeigt, und zwar unter der Überschrift »Memorandum macht frei«, eine Anspielung auf die Überschrift über dem Eingangstor des Konzentrationslagers in Auschwitz 126 und Demonstranten, die öffentlich die deutsche Fahne verbrannten und von Deutschland Reparationsleistungen für die Besatzung im Zweiten Weltkrieg fordern. Europas Nationalstaatensind nicht bereit für eine strenge Wirtschaftsregierung durch Brüssel. Der Weg in die Zentralisierung lässt alte Feindbilder aufbrechen. Statt die Völker Europas friedlich zu vereinen, droht die Europäische Union daran zu zerbrechen.
Die Eurorettung kann so zur Zerstörung der europäischen Errungenschaften führen.
Eine Eurozone in Freiheit und Selbstverantwortung
Kehren wir zur rechten oberen Ecke des Politikraums in Abbildung 6 zurück. Hier haben Einzelstaaten weitgehende Autonomie und Gestaltungsfreiheit über ihren Haushalt. Sie sind aber für die budgetären Konsequenzen ihrer Haushaltspolitik allein verantwortlich. Gelingt es, ein solches System zu installieren, dann ist das Samariterdilemma ausgeräumt, und zugleich bleibt den Einzelstaaten Gestaltungsfreiheit.
Mit dem Artikel 125 AEUV hatten sich die E U-Mitgliedsländer eigentlich genau diese Eigenverantwortlichkeit gegenseitig versprochen. Die Systemrelevanz von Eurostaaten im herrschenden Finanzmarktumfeld des Jahres 2010 unterminierte aber die Glaubwürdigkeit der »No-bailout-Klausel« und beeinträchtigte damit die Eigenverantwortung. In der Welt nach dem Zusammenbruch der U S-Investmentbank Lehman Brothers können sich die Staaten keinen Zusammenbruch eines wichtigen Marktteilnehmers – sei es eine Bank oder gar ein Staat – mehr vorstellen. Zu groß erscheint ihnen das Risiko, dass in einem Finanzsystem des vernetzten Kapitals und hoher Verschuldungsgrade schon kleinere Ausfälle großes Unheil anrichten. Wechselseitige Abhängigkeiten und geringe Risikopuffer könnten beim Kollaps einer Institution rasch die Funktionsweise des gesamten Systems infrage stellen. 141 Der Lehman-Crash im September 2008 hatte beinahe eine Kernschmelze des Finanzsystems ausgelöst, die nur durch drastische Eingriffe von Staaten und eine Liquiditätsschwemme vonseiten der Notenbanken gestoppt werden konnte.
An diesem Beispiel zeigt sich, dass die Ursachen für die Fehlfunktion des Stabilitäts- und Wachstumspakts nicht in den Institutionen des Pakts selbst begründet sind. Die Ursachen liegen vielmehr in der Funktionsweise der Finanzmärkte, jedenfalls in der Ausprägung der letzten Jahre. Eine ursachengerechte Beseitigung der Fehlfunktionen muss deshalb zunächst bei den Finanzmärkten ansetzen. Das »No-bailout-Versprechen« der Eurozone gegenüber den einzelnen Mitgliedsstaaten muss glaubwürdig sein. Um das zu erreichen, muss man die Anreize zur zwischenstaatlichen Hilfe beseitigen. Das kann die Weltgemeinschaft tun, indem sie dem insolventen Mitgliedsstaat einen Weg zur Selbsthilfe eröffnet und gleichzeitig die negativen systemischen Auswirkungen unterbindet, die von der Insolvenz eines Staats für die anderen Mitgliedsstaaten ausgehen.
Leukerbad ist ein kleiner Kurort im Kanton Wallis in der Schweiz. Im Jahr 1998 hatte Leukerbad ca. 1 750 Einwohner. Wie im Kanton Wallis üblich, gibt es in Leukerbad mit einer Bürgergemeinde und einer Munizipalgemeinde zwei getrennte Körperschaften, die sich am Kreditmarkt verschulden können. Die Gemeindeverwaltung hatte im Laufe der Jahre durch eine sehr rege Investitionstätigkeit direkt im Gemeindehaushalt und zusätzlich indirekt über Beteiligungsgesellschaften Schulden in Höhe von fast 350 Millionen Schweizer Franken angehäuft. Die aufsichtführende Kantonalverwaltung wurde auf die missliche Finanzlage erst im Laufe der neunziger Jahre aufmerksam. Die Kantonalverwaltung beschränkte daraufhin am 16. September 1998 die Handlungsfreiheit der Munizipal- und der Bürgergemeinde Leukerbad, und gab die Ausarbeitung eines Sanierungsplans in Auftrag. Dieser Plan wurde von den Gläubigern zunächst abgelehnt, am 7. Dezember
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