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Schuldig

Schuldig

Titel: Schuldig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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bis zwei Uhr nachts am Himmel stand, schliefen die Menschen in Akiak auch nicht viel. Die Jugendlichen vertrieben sich die Zeit mit Schwarzgebranntem und Gras, wenn sie welches kriegen konnten. Wenn nicht, hinterließen sie eine Spur aus Schokoriegelverpackungen und leeren Limodosen. Kleinere Kinder spielten in dem trüben, grünen Wasser des Kuskokwim, das so kalt war, dass man schon im August nach nur wenigen Augenblicken kein Gefühl mehr in den Füßen hatte. Jedes Jahr ertrank jemand aus den Yupik-Dörfern, weil schwimmen lernen in dem eisigen Wasser einfach nicht möglich war.
    In dem Jahr, als Daniel acht war, spazierte er im Juli einmal barfuß am Ufer des Kuskokwim entlang. Eine Wand aus Erlen und Weiden säumte das eine Flussufer, während am anderen eine drei Meter hohe Böschung bis ins schlammige Wasser reichte. Immer wenn Daniel stehen blieb, sammelten sich Moskitos auf seinem Gesicht; manchmal flogen sie ihm in die Ohren, laut wie ein Buschflugzeug. In der Flussmitte sah Daniel die fetten Rücken der Königslachse auftauchen wie Minihaie. Die Männer des Dorfes waren in ihren Aluminiumfischerbooten unterwegs, die den ganzen Winter über wie gestrandete Wale am Ufer geschlafen hatten. Die Fischcamps der Yupik besprenkelten die Flussränder: einzellige Städte aus weißen Zelten oder aus zusammengenagelten knorrigen Latten und mit blauem Segeltuch abgedeckt, das wie die Schürzen aufgeregter alter Frauen flatterte. Auf aufgebockten Sperrholzplatten schnitten die Frauen Königs- und Rotlachse in Streifen, die dann zum Trocknen über Gestelle gehängt wurden, während sie ihren Kindern zuriefen: Kaigtuten-qaa? Habt ihr Hunger? Qinucetaanrilgu kinguqliin! Hör auf, deinen kleinen Bruder zu ärgern!
    Er hob einen verkrusteten Ast auf, einen Keilriemen und eine verrostete Schraube, und plötzlich sah er es. Das konnte doch nicht … oder doch? Man brauchte ein geübtes Auge, um zwischen all dem nassen Treibholz einen Elfenbeinstoßzahn oder einen versteinerten Knochen zu entdecken, aber es kam vor, das wusste Daniel. Andere Kids aus der Schule – die, die ihn verspotteten, weil er ein kass’aq war, die ihn auslachten, weil er kein Schneehuhn erlegen oder auf einem Motorschlitten aus der Wildnis ins Dorf zurückfinden konnte – hatten im Flussschlamm schon Mastodonzähne gefunden.
    Daniel ging in die Hocke und begann um seinen Fund herum zu graben, wobei das Wasser sogleich in die Vertiefung floß und seine Arbeit zunichte machte. Es war tatsächlich ein echter Stoßzahn, hier, direkt vor seiner Nase. Er stellte sich vor, dass er bis hinunter ins Grundwasser reichte und noch größer war als der, der in Bethel ausgestellt wurde.
    Zwei Raben beobachteten ihn von der Böschung aus und krächzten ihre Kommentare, während Daniel zog und zerrte. Der Stoßzahn eines Mammuts konnte drei bis vier Meter lang sein und ein paar hundert Pfund wiegen. Vielleicht war es auch gar kein Mammut, sondern ein quugaarpak . Die Yupik erzählten sich Geschichten von diesem riesigen Wesen, das in der Erde lebte und nur nachts herauskam. War es noch über der Erde, wenn die Sonne aufging, verwandelte sich sein gesamter Körper in Knochen und Elfenbein.
    Daniel mühte sich stundenlang ab, den Stoßzahn freizubekommen, aber er saß zu fest und zu tief. Er musste ihn zurücklassen und mit Werkzeug zurückkommen. Als Markierung trampelte er hohes Schilf nieder und baute einen kleinen Steinhügel, damit er die Stelle wiederfand.
    Am nächsten Tag zog Daniel mit Schaufel und Holzkeil bewaffnet los. Er hatte den vagen Plan, einen Damm zu bauen, um den Wasserzufluss zu stoppen, während er den Stoßzahn aus dem Schlamm grub. Er kam an denselben Leuten in den Fischcamps vorbei, er sah die Biegung, wo die Erlen ins Wasser gestürzt waren, er sah die beiden krächzenden Raben – aber als er zu der Stelle kam, war der Stoßzahn verschwunden.
    Man sagt, niemand steigt je in denselben Fluss. Vielleicht war das die Erklärung, oder aber er hatte die richtige Stelle nicht wiedergefunden, weil die starke Strömung den Steinhaufen fortgespült hatte. Vielleicht war es aber auch so, wie die Yupik-Kinder sagten, dass Daniel zu weiß war, um zu tun, was für sie so natürlich war wie Atmen: Geschichte mit bloßen Händen finden.
    Erst als Daniel wieder ins Dorf kam, merkte er, dass die Raben ihm bis nach Hause

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