Schuldig
nirgendwo einen Yupik sieht?«
»Nein.«
»Dass es zu kalt ist, um drauÃen zu sein.«
Laura stopfte die Hände in die Taschen. »Es ist so still hier«, sagte sie.
Charles nickte. »Ab und zu ziehen Leute rüber nach Bethel, und dann kommen sie zurück, weilâs ihnen zu laut ist. Da ist einfach viel zu viel los.«
Laura lächelte, Bethel war nun wahrlich keine Metropole. »In New York würde ihnen wahrscheinlich der Schädel platzen.«
»Ich war mal da«, sagte Charles, und sie blickte überrascht. »Oh, ich bin schon viel rumgekommen. War in Kalifornien und in Georgia, damals, als Soldat. Und in Oregon bin ich zur Schule gegangen.«
»Wie das?«
»Na ja, früher gab es hier noch keine Schulen. Aber da auch wir Dorfkinder einen Anspruch auf Schulbildung hatten, wurden wir auf irgendwelche Internate geschickt, wo wir dieselben Sachen lernen mussten wie die WeiÃen. Man konnte sich die Schule aussuchen. Es gab eine in Oklahoma, aber ich hab mich für Chemawa in Oregon entschieden, weil meine Cousins schon da waren. Ich bin furchtbar krank geworden, von dem Essen der WeiÃen und von der Hitze. Und einmal hab ich mir richtig Ãrger eingehandelt, weil ich aus einem Schuhriemen eine Kaninchenfalle gebastelt hatte.«
»Das war bestimmt schlimm für Sie.«
»Damals ja«, sagte Charles. Er schlug die restliche Asche aus dem Pfeifenkopf und schob mit dem Fuà Schnee darüber. »Heute bin ich mir nicht mehr sicher. Die meisten von uns sind nach Hause zurückgekehrt, aber wir hatten zumindest mal gesehen, wie es woanders aussieht und wie andere Leute leben. Heute kommen manche gar nicht mehr aus dem Dorf raus. Die einzigen kassâaqs , die sie je kennenlernen, sind Lehrer, und die einzigen Lehrer, die zu uns kommen, finden entweder bei sich daheim keinen Job oder laufen vor irgendwas davon â nicht gerade Vorbilder. Die jungen Leute heute reden immer nur davon, aus dem Dorf abzuhauen, aber wenn sie es dann tun, ist es für sie wie Bethel â nur hundertmal schlimmer. Die Menschen bewegen sich zu schnell und reden zu viel, und ehe man sichâs versieht, kommen sie zurück, an einen Ort, an dem sie nicht sein wollen â nur weil sie wissen, dass sie gar keine Fluchtmöglichkeit haben.« Charles warf Laura einen Blick zu und steckte die Pfeife in die Jackentasche. »So ist es meinem Sohn ergangen.«
Sie nickte. »Daniel hat mir von ihm erzählt.«
»Er war nicht der Erste. Ein Jahr zuvor hatte ein Mädchen Tabletten geschluckt. Und noch davor hatten zwei Basketballspieler sich aufgehängt.«
»Das tut mir leid«, sagte Laura.
»Ich wusste von Anfang an, dass Wass Cane nicht getötet hatte. Es war damit zu rechnen gewesen, dass Cane es tun würde. Manche Menschen wissen irgendwann einfach nicht mehr, woran sie sich festhalten sollen.«
Und manche Menschen, dachte Laura, beschlieÃen loszulassen.
Obwohl es erst zwei Uhr am Nachmittag war, hing die Sonne bereits tief am Horizont. Charles ging die Stufen zum Haus hinauf. »Ich weiÃ, Sie fühlen sich hier wie auf dem Mars. Und Sie und ich, wir sind so unterschiedlich, wie man nur sein kann. Aber ich weià auch, wie es ist, wenn man ein Kind verliert.« Er drehte sich auf der obersten Stufe um. »Erfrieren Sie bloà nicht. Das würde Wassilie mir nie verzeihen.«
Laura blieb drauÃen stehen und betrachtete den Himmel. Es war doch leichter, als sie gedacht hatte, sich an Stille zu gewöhnen.
Als die Helfer versuchten, die Körpertemperatur von Kingurauten Joseph zu heben, indem sie ihm die gefrorene Kleidung herunterschnitten und ihn in Decken wickelten, fanden sie eine filigrane, aus Knochen geschnitzte Taube, ein Schnitzmesser und dreihundert Dollar, die in seinem Stiefel steckten. Carl erklärte Trixie, dass hier alles nur in bar ablief. Das Geldbündel in Josephs Socken war seine Krankenversicherung.
Trixie war gerade von ihrer Schicht am Fluss zurückgekommen und noch immer durchgefroren. »Ihr beide könnt euch ja zusammen aufwärmen«, schlug Carl vor und übertrug den alten Mann ihrer Obhut.
Und sie hatte nichts dagegen. Während die Musher von Tuluksak über Kalskag nach Aniak und wieder zurück sausten, versuchten die freiwilligen Helfer, ein bisschen zu schlafen. Aber Trixie war hellwach.
Sie wünschte, ihr Vater wäre jetzt hier.
»Ich hab dich vermisst«,
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