Schuldig
verschlissenem T-Shirt und ausgebeulter Jacke und nikotinverfärbten Fingern voller Tintenflecke. Stattdessen sah sie, wer sie hätte sein können, wenn sie sich nicht bewusst dagegen entschieden hätte.
»Du magst also Gedichte.« Daniel nahm den Faden wieder auf.
»Na ja, John Ashbery ist nicht schlecht. Aber wenn man Rumi liest â¦Â« Sie verstummte, weil ihr einfiel, dass ein Ja als Antwort genügt hätte. »Du hast mich bestimmt nicht hierherbestellt, um über Lyrik zu sprechen.«
»Für mich ist das alles Humbug, aber deine Augen sehen schön aus, wenn du drüber sprichst.«
Laura rückte ein Stück von ihm ab.
»Interessiert es dich nicht, warum ich wollte, dass du herkommst?«, fragte Daniel.
Sie nickte und vergaà zu atmen.
»Weil ich wusste, dass du schlau genug bist, um die Einladung zu entdecken. Weil dein Haar alle Farben des Feuers hat.« Er streckte den Arm aus, legte die Hand an ihr Kinn und lieà sie an ihrem Hals hinabgleiten. »Und als ich dich neulich Abend berührt habe, wollte ich dich schmecken.«
Ehe sie richtig begriff, was er tat, lag Laura in seinen Armen, und sein Mund glitt heià über ihre Lippen. In seinem Atem waren Spuren von Alkohol und Zigaretten und Einsamkeit.
Sie stieà ihn weg und rutschte hastig von dem Barhocker. »Was machst du denn?«
»Genau das, weswegen du gekommen bist«, sagte Daniel.
Die anderen Männer an der Theke pfiffen. Lauras Gesicht brannte. »Ich weià nicht, weswegen ich gekommen bin«, sagte sie und wandte sich zur Tür.
»Wegen allem, was wir gemeinsam haben«, rief Daniel.
Sie wandte sich um und sagte: »Wir haben absolut nichts gemeinsam.«
»Ach nein?« Daniel trat näher und drückte die Tür mit einem Arm zu. »Hast du deinem Freund erzählt, dass du dich mit mir treffen willst?« Als Laura nichts erwiderte, lachte er.
Laura erstarrte unter dem Gewicht der Wahrheit: Sie hatte nicht nur Walter etwas vorgemacht, sondern auch sich selbst. Sie war aus freien Stücken gekommen; sie war gekommen, weil sie den Gedanken nicht ertragen hätte, es nicht zu tun. Aber vielleicht war sie nicht deshalb von Daniel Stone fasziniert, weil er anders war als sie, sondern wegen der Ãhnlichkeiten.
Vielleicht hatte Daniel Stone recht.
Sie starrte ihn an, und das Herz hämmerte ihr in der Brust. »Was hättest du gemacht, wenn ich heute nicht gekommen wäre?«
Seine blauen Augen verdunkelten sich: »Gewartet.«
Sie war verlegen und sie war unsicher, aber Laura machte einen Schritt auf ihn zu. Sie dachte an Madame Bovary und an Julia, an Gift, das einem durch die Blutbahn rauscht, und an Leidenschaft, die dasselbe tut.
Mike Bartholemew tigerte vor dem Cola-Automaten in der Notaufnahme auf und ab, als er seinen Namen hörte. Er blickte auf und sah eine zierliche Frau mit dunklem Haarschopf vor sich stehen, die die Hände in die Taschen ihres weiÃen Arztkittels geschoben hatte. Dr. C. Roth . »Ich würde gern mit Ihnen über Trixie Stone sprechen«, sagte er.
Sie nickte und warf einen Blick auf die vielen Menschen um sie herum. »Gehen wir in einen freien Untersuchungsraum.«
Es gab keinen Ort, an dem Mike weniger gern gewesen wäre. Als er das letzte Mal in so einem Raum gewesen war, musste er den Leichnam seiner Tochter identifizieren. Kaum war er durch die Tür getreten, wurde ihm schwindelig. »Alles in Ordnung?«, fragte die Ãrztin besorgt.
»Ja ja, kein Problem.«
»Ich hol Ihnen was zu trinken.«
Sie verschwand für wenige Augenblicke und kam dann mit einem Pappbecher Wasser zurück. Als Mike den Becher leer hatte, zerquetschte er ihn in der Hand. »Vielleicht hab ich mir eine Erkältung eingefangen«, sagte er, um seinen kleinen Schwächeanfall herunterzuspielen. »Ich hätte da noch ein paar Fragen zu Ihrem Untersuchungsbericht.«
»SchieÃen Sie los.«
Mike zog Stift und Notizblock aus der Jackentasche. »Sie sagten, dass Trixie Stone sich hier im Krankenhaus ruhig verhalten hat.«
»Ja, bis zur Vaginaluntersuchung â da hat sie die Fassung verloren. Aber während der übrigen Untersuchung war sie ganz ruhig.«
»Nicht hysterisch?«
»Nicht alle Vergewaltigungsopfer reagieren so«, sagte die Ãrztin. »Manche stehen unter Schock.«
»Hat sie geblutet?«
»Minimal.«
»Hätte die Blutung nicht stärker
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