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Schuldlos ohne Schuld

Schuldlos ohne Schuld

Titel: Schuldlos ohne Schuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kjell-Olof Bornemark
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doch, dass die Polizei einen Hubschrauberstützpunkt am anderen Ende des Waldes hat. Martin ist unzählige Male daran vorübergegangen und hat das Schild gelesen, das vor niedrig fliegenden Maschinen warnt. Er hätte sofort kapieren müssen, dass die Verkehrspolizei über ihm nach Hause flog, nachdem sie den morgendlichen Berufsverkehr auf den Einfallstraßen der Stadt überwacht hatte.
    Eigentlich ist nichts geschehen.
    Nichts Ernstliches, worüber er sich Gedanken machen müsste. Er ist unvorsichtig gewesen und hat einen Denkzettel bekommen. Das ist nur gut. In Zukunft muss er alles, was er sich vornimmt, sorgfältiger planen. Vor allem muss er lernen, mit dem Zufall zu rechnen.
    Martin ist auf dem Heimweg und hat den Wald hinter sich gelassen. Den Revolver hat er in die Hosentasche gesteckt. Das ist, als wäre der Unterleib mit einem zweiten Glied versehen. Trotzdem kann niemand sehen, dass er bewaffnet ist.

6
    Vielleicht gibt es keine Wirklichkeit, nur Erinnerungen und Träume, aber auch Einbildungen. Martin liegt hellwach im Bett und versucht, sich von den Laken zu befreien, die sich wie ein feuchtwarmes Leichentuch um seinen Körper gewunden haben. Sie sind pitschnass. Martin hat von seinem Vater geträumt. Er ist schweißgebadet aufgewacht, und er ist sicher, laut geschrieen zu haben. Die Uhr zeigt halb vier morgens, aber es ist schon hell. Es ist Mittsommer.
    Der Traum ist keine Einbildung. Im Gegenteil, er ist wirklich und deutlich. Quälend hat er die Strafe in der kleinsten Kleinigkeit wiederholt. Heute Nacht bestimmt Hunderte von Malen.
    Martin träumt immer dasselbe. Der Vater steht rothaarig und breitbeinig vor dem Sohn und schlägt ihm mit der großen Blumenschere auf die Fingerknöchel. Er ist leichenblass vor Wut. Sie befinden sich im Innenraum der Blumenhandlung, wo die Schnittblumen in großen Eimern zu überleben versuchen und die Buketts zusammengebunden werden. Martin ist gezwungen, die Hände auf den Arbeitstisch zu legen, und der Vater steht auf der anderen Seite des Tisches und schlägt, wieder und wieder. Nicht so hart, dass die Knochen brechen, doch hart genug, dass die Hände des Sohnes anschwellen und noch Tage danach weh tun werden. Martin ist sechzehn Jahre alt und bereits größer als der Vater, aber er hat sich noch nicht zur Wehr gesetzt. Es sollte noch ein weiteres halbes Jahr dauern, bis Martin zum ersten Mal zurückschlug, und da schlug er hart zu.
    »Du fauler, undankbarer Teufel«, zischt der Vater zwischen den Zähnen. »Quaken kannst du wie eine Kröte, und du bist ebenso aufgeblasen und einfältig. Wenn deine Mutter noch leben würde, hätte sie dich in ein Heim gesteckt. Ja, bestimmt. Aber das tue ich nicht, obwohl du dorthin gehörst. Stattdessen kümmere ich mich um dich und versorge dich. Dafür musst du tun, was ich sage und Manieren lernen.«
    Im Takt der Worte klopfte der Vater Martins Knöchel mit der Blumenschere weich.
    »… Du wirst arbeiten … und Manieren lernen …«
    »… arbeiten … Manieren lernen …«
    »Manieren lernen!«
    Martin konnte nie sicher sein, dass der Vater sein wirklicher Vater war. Er hat nie die Wahrheit erfahren, und jetzt ist es zu spät. Allzu oft nannte der Vater ihn in der Wut oder im Rausch ein uneheliches Kind oder einen Bastard, er sagte aber auch »mein Kleiner« zu ihm, und es gab manche Ähnlichkeiten zwischen ihnen. Der Vater nahm seine Verwünschungen nie zurück. Er nahm überhaupt nie etwas zurück. Nicht einmal dann, wenn er sich freundlich und sozial verhalten wollte, was selten genug vorkam. Dann tat er so, als wäre nie etwas zwischen ihnen passiert, nichts, was wert gewesen wäre, noch weiter davon zu reden. Vielleicht war dies der Grund, warum Martin ein halbes Jahr später mit all seiner unkontrollierbaren, eben erwachten Muskelkraft zurückschlug. Nicht nur, weil er Schläge bekommen hatte, sondern weil er nie offene und ehrliche Antworten erhielt, nur Ausflüchte und verletzende Gleichgültigkeit. Noch heute bereut es Martin nicht, dass er damals zu hart zuschlug.
    Der Vater kam ins Krankenhaus und erholte sich niemals ganz. Physisch gesehen waren die Schäden zu bewältigen, ein gebrochenes Nasenbein und einige blaue Schwellungen, die schlimmer aussahen, als sie waren. Es schien jedoch, als hätte der Vater den Glauben an sich selbst verloren und fände keinen Sinn mehr im Dasein, keine Hoffnung für die Zukunft. Er versuchte nicht einmal sich zu rächen. Stattdessen fing er an, immer maßloser zu saufen. Martin

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