Schuldlos ohne Schuld
die Hände ringen und überlegen, wieviel er bei der Versicherung herausholen kann. Schrille, mitfühlende Frauenstimmen werden sich über den unbegreiflichen Vandalismus der Jugend heutzutage empören – es ist immer die Jugend, die die Schuld zugewiesen bekommt, und Martin will keinen Hinweis hinterlassen. Träge Polizisten zwingen sich, ein Scheinverhör durchzuführen, um später einen Bericht zu schreiben, den der Staatsanwalt beiseite legt. Danach bekommt der Glasermeister Freude im Herzen. Er hat nichts gegen zerschlagene Schaufenster, obwohl er Krawalle einem so einfachen Unfug vorzieht.
Martin entfernt sich von dem Trümmerhaufen des Schuhhändlers, ohne sich zu beeilen. Plötzlich beginnt er, eine Melodie vor sich hin zu summen, von der ihm nur der Anfang einfällt. Irgendwie spielt er in seiner Phantasie Theater, vor Zuschauern, die mit ihm unter einer Decke stecken, und eine innere Freude lässt ihn einige Tanzschritte auf der Straße ausführen.
Die Frau, die aus der Haustür kommt, ist blond, doch von hagerer Gestalt, und sie hat ein ganz nacktes Gesicht. Darin gibt es überhaupt keine Verstellung. Sie sieht weder vergrämt noch gleichgültig aus, wie dies häufig bei alleinstehenden Frauen der Fall ist, die nicht glauben, dass man sie wahrnimmt. Sie ist ganz einfach freundlich, ohne deshalb beschränkt zu wirken. Martin vermutet, dass sie über vierzig ist und aus Finnland stammt. Das erkennt er an ihren kräftigen Backenknochen. Die Frau ist Zeitungsausträgerin und hat einen Kinderwagen voll Morgenzeitungen vor der Haustür abgestellt. In dem Augenblick, als sie auf den Bürgersteig herunter geht, erblickt sie Martin. Zuerst scheint sie zurückzuschrecken. Dann richtete sie sich auf und lächelt. Es ist ein ansprechendes Lächeln, weder einschmeichelnd noch ängstlich. Die hellblauen Augen blicken fest und ruhig. Vielleicht verbergen sie trotzdem einen Funken Wachsamkeit.
»Guten Morgen«, sagt sie laut in ihrem singenden Tonfall, als sei es ganz selbstverständlich, ein Gespräch miteinander zu beginnen.
»Nur Leute, die arbeiten oder von der Arbeit nach Hause kommen, sind jetzt unterwegs«, fügt sie hinzu.
Martin nickt und lächelt breit zurück. Sie ist Finnin, keine Finnlandschwedin. Das hört man am Akzent.
Sie stehen da und sehen einander an, und obwohl sie Fremde sind, die sich niemals zuvor getroffen haben, gibt es kein gegenseitiges Abschätzen. Vielleicht sind sie sich nicht einmal des Augenblicks bewusst. Es geht nur um Sekunden, und als sie sich ihrem Ende nähern, hat sich eine Frage ergeben, die nur Martin beantworten kann. An ihm liegt es zu entscheiden, ob sie sich wortlos von einander trennen werden – für immer – oder …?
»Gehen wir denselben Weg?«, bringt er endlich heraus, beinahe stotternd.
Er fühlt sich wieder warm und stark, aber nicht so übermütig wie vorhin vor dem Schaufenster des Schuhgeschäfts. Ein zweites Mal an diesem Morgen glaubt er, eine Bestätigung bekommen zu haben, dass er endlich wie ein ganzer Mann auftritt.
»Den Hügel hinauf?«, fragt die Frau mit einem Nicken, während sich ihr Lächeln verändert. Es ist eine Spur von Zufriedenheit hinzugekommen.
»Lassen Sie mich mal Chauffeur sein«, sagt Martin hastig und greift fest nach dem Kinderwagen.
Es sind fast hundert Meter bis zur nächsten Haustür, da ein unbehauener Felsen auf dieser Seite der Straße liegt. Plötzlich ist es, als ob keiner von ihnen mehr weiß, was er sagen soll. Martin schiebt den Kinderwagen vor sich her, und die Frau geht neben ihm, bleibt aber einen halben Schritt zurück. Aus der Entfernung wirken sie wie ein altes, vertrautes Paar, das nicht mehr mit Überraschungen rechnet.
Es ist keine größere Last, die Martin fährt, aber er versucht sie unbedeutender zu machen, als sie tatsächlich ist, und er kann der Versuchung zu glänzen nicht widerstehen. Deshalb hat er nur zwei Finger auf den Lenkbügel gelegt. Das sieht lässig und kraftvoll aus.
Als er plötzlich den Kopf wendet, um die Frau anzusehen, bemerkt er, dass sie überrascht ist. Ihre Augen mustern Martins Armmuskeln. Es liegt etwas Heißhungriges und Träumerisches in diesem Blick, und Martin fühlt sich verlegen. Er schließt die Augen und wendet den Kopf wieder in Fahrtrichtung. Plötzlich beginnt er halblaut vor sich hinzumurmeln.
»Was sagen Sie?«, fragt die Frau.
Martin wird rot und schüttelt energisch den Kopf. Jetzt muss er sich zusammennehmen.
»Ich möchte nur wissen«, antwortet er,
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