Schuldlos ohne Schuld
das kommt aber mehr von seiner Nervosität als von der Detonation, obwohl diese ihn durch ihre gewaltige Stärke überrascht hat. Es schmerzt in Martins Ohren, und er atmet tief durch bei dem Versuch, die Fassung wiederzugewinnen.
Der Frühling ist schon ein Stück vorwärts gekommen. Ein federleichter Nieselregen sprüht durch das filigrane Blattwerk, obwohl die Sonne hier und dort durch die Wolken scheint. Der Wald ist saftig grün, auch wenn die Blätter noch nicht so dicht gewachsen sind, wie er es sich wünschen würde. Um ihn herum riecht es nach zu neuem Leben erwachter Erde. Der Boden gibt unter Martins Schritten nach. Er wirkt saugend und schwammig, fast wie ein Sumpf, der keinen festen Halt bietet. Er ist bis zu den Knöcheln eingesunken, und die weißen Sportschuhe sind vom Schlamm braun befleckt. Die Hosenbeine des Trainingsanzuges haben bis weit zu den Knien hinauf schmierige Schmutzränder bekommen.
Plötzlich ist es ganz still geworden, und dieser Eindruck beruht nicht nur darauf, dass Martin vorübergehend schwerhörig ist. Es scheint so, als ob alles Leben im Wald Deckung gesucht hätte und in tiefem Erschrecken den Atem anhielte. In gewisser Hinsicht teilt Martin dieses Erschrecken, auch wenn er dies nicht einmal sich selbst eingestehen würde. Er hat niemals zuvor eine Waffe abgedrückt, nicht einmal mit einem Luftgewehr auf dem Jahrmarkt geschossen. Eine militärische Ausbildung wurde ihm nicht zuteil, da ihn die Musterungsstelle gegen seinen Willen und zu seinem Kummer untauglich für den Wehrdienst erklärt hatte.
Die Stärke des Knalls und die Gewalt des Rückstoßes überraschten ihn daher, als er jetzt zum ersten Mal scharf schoss. Er hat keine Ahnung, wohin der Schuss gegangen ist. Zwar zielte er auf eine Grube in fünfzehn Metern Abstand, es fiel ihm aber schwer, die Waffe ruhig zu halten. Der Revolver schwankte eigensinnig vor und zurück, und Martin fand keine ruhige Haltung. Als er den Abzug mit einem allzu verkrampftem Zeigefinger betätigte, traf er auf halbem Weg einen Widerstand, auf den er nicht vorbereitet war. Vielleicht zog er zu kräftig, um den Sicherungswiderstand zu überwinden, und möglicherweise hob er dabei den Arm, so dass der Lauf gerade nach vorn oder nach oben gerichtet war.
Da tödliche Stille um ihn herum herrscht – Martins Ohren sind nicht mehr betäubt –, kann er nichts Lebendiges mit seinem Schuss verletzt haben, falls nicht …
Martin will den Gedanken nicht zu Ende denken. Der Revolver ist kein Spielzeug, man muss mit ihm respektvoll umgehen. Er taugt zur Einschüchterung, und es genügt, ihn vorzuzeigen, um einer Bedrohung zu begegnen. Damit hat er Erfahrung. Auch wenn er ihn jetzt zum ersten Mal ausprobiert, hat er sich nie vorstellen können, auf etwas Lebendiges in der Absicht des Tötens zu schießen. Der Besitz des Revolvers hat zur Folge, dass er andere Menschen weniger fürchtet, dass er sich nun als den allermeisten gleichgestellt betrachtet. Auch wenn sie glauben, sie wären ihm überlegen – sie sind es nicht mehr. Ohne dass sie es wissen und ohne dass er will, dass es sichtbar wird, ist das Gegenteil der Fall.
Der Kauf des Revolvers war für Martin die meiste Zeit eine zweischneidige Angelegenheit. Es ist wahr, dass er sich kaum jemandem unterlegen fühlt. Die Waffe hat sein Leben verändert und ihm Stärke verliehen. Er hat seinen Job verloren, weil die anderen nicht zur Kenntnis nehmen wollten oder nicht begreifen konnten, dass er nicht mehr derselbe war wie früher. Ohne Arbeit zu sein ist immer ein Nachteil. In gewisser Hinsicht hat es trotzdem mit seinem Unterhalt geklappt, und er ist nicht bereit, das Geheimnis zu lüften, selbst wenn ihm jemand dafür eine neue Arbeit anbieten würde.
Es ist neun Uhr morgens, und Martin ist überzeugt, der einzige Mensch im Wald zu sein. Auf dem Parkplatz, von dem die Trimmpfade wegführen, steht kein einziges Auto. Außerdem ist es Montag. Montagmorgen.
Er muss einen neuen Versuch machen. Das Ohrensausen ist fast ganz vergangen, aber jetzt weiß Martin, was ihn erwartet. Um sich gegen den Knall zu schützen, bedeckt er die Ohren mit der Mütze, die er bis zu den Augenbrauen herunterzieht. Im Film hat er gesehen, wie die Profis die Waffe immer mit beiden Händen halten. Vielleicht ist das die richtige Haltung. Martin sucht lange nach dem besten Doppelgriff, und nach einer Weile glaubt er ihn gefunden zu haben.
Die Talsenke, in der Martin steht, ist eng und nur einige Meter tief. Er hat den Platz
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