Schuldlos ohne Schuld
mit Umsicht gewählt, damit der Knall des Schusses soweit wie möglich gedämpft wird. Er sucht nach etwas Massiverem, um darauf zu zielen, und erblickt plötzlich eine Bierdose, die halb im Boden begraben ist. Es waren also vor ihm Menschen hier gewesen. Die Bierdose ist rostig und zusammengedrückt, als hätte jemand darauf herumgetrampelt, aber das ist ohne Bedeutung. Martin drückt die Dose zwischen einige knorrige Baumwurzeln, die aus dem Hang hervortreten. Nun geht er ein gutes Stück zurück, bis er sich umdreht und Schießhaltung einnimmt. Er lächelt etwas unsicher und nachdenklich. Einen Augenblick sieht er sich wie in einem Film. Er steht da allein in der Senke mit dem Revolver in der Hand, die schwarze Mütze über die Ohren gezogen. Die Szene ist lustig und grenzt ans Lächerliche. Sie erinnert ihn an einen Western, in dem der Revolverheld auch auf leere Büchsen schoss.
Martin schüttelt sich vor Lachen. Jetzt fühlt er sich wieder ruhig und konzentriert. Er achtet darauf, dass er sicher steht; er handelt zielbewusst und mit einem starken Gefühl des Selbstvertrauens und der Männlichkeit. Nicht ohne Eleganz richtet er den Revolver, den er mit beiden Händen nicht zu weit vom Körper entfernt hält, auf die Bierdose. Er geht ein wenig in die Knie und zielt genau. Der Finger ruht entspannt an der Sicherung des Abzugs. Fast zärtlich löst er den Schuss.
Boooaang … ng … g …
Der Rückstoß wirkt diesmal nicht genauso stark, der Knall ist aber ebenso ohrenbetäubend, trotz der heruntergezogenen Mütze. Die Bierdose liegt noch da, Martin ist aber sicher, dass er mitten hinein getroffen hat. Er blinzelt, und als er glaubt, ein Einschussloch in einer der Baumwurzeln knapp zehn Zentimeter neben der Bierdose entdeckt zu haben, nickt er zufrieden. Gemessenen Schrittes geht Martin zu der Baumwurzel und der Bierdose, um das Ergebnis seiner Schießübung zu überprüfen. Er zieht ein wenig arrogant den Mund zusammen, wie es ein selbstbewusster Meisterschütze tun muss, wenn er nicht mitten ins Schwarze getroffen hat.
Martin ist noch nicht angelangt, als er plötzlich erstarrt und wie außer sich vor Schrecken stehen bleibt. Er ist völlig verwirrt und traut seinen Ohren nicht. Das kann doch nicht wahr sein!
Das darf doch nicht wahr sein!
Da hört er durch das Brausen in seinem Kopf erneut das Bellen eines Hundes, jetzt ganz in seiner Nähe. Es klingt irgendwie gierig, als käme es von einem Jagdhund, der Witterung aufgenommen hat.
Hunde dürfen in diesem Wald nicht frei herumlaufen. Darüber informiert eine Anschlagtafel. Auch die Jagd ist nicht erlaubt. Martin steht ratlos und weiß nicht, was er machen soll. Er ist die ganze Zeit davon ausgegangen, allein im Wald zu sein.
Der Hund bellt immer noch, und jetzt glaubt Martin, dass das Geräusch von allen Seiten in die Senke dringt. Man kann unmöglich entscheiden, aus welcher Richtung es kommt.
Ohne bewusst einen Fluchtweg zu wählen – erst hört er auf zu lauschen und dann zu denken –, klettert Martin flink wie ein Eichhörnchen den steilen Abhang hinauf und wirft sich mit einem Sprung in den offenen Kieferwald. Es ist nicht der Hund, der ihn beunruhigt, sondern der Mensch, der dem Tier folgt. Martin muss von dem Schießplatz weg. Niemand darf ihn mit dem Schuss in Verbindung bringen. Schon hundert Meter von hier wird er behaupten, absolut nichts gehört oder gesehen zu haben.
Dann erblickt Martin den Hund. Er ist kleiner, als das heftige Bellen vermuten ließ, und obwohl das Maul weit geöffnet ist und er die ganze Zeit bellt und sabbert, wirkt er nicht besonders bösartig. Im selben Augenblick hört Martin den scharfen Befehl eines Mannes, den er noch nicht sehen kann. Das Tier fügt sich widerwillig und trottet mit hängendem Schwanz zu seinem Herrn zurück.
Auch Martin ist stehen geblieben. Er hält den Atem an und zögert wie der Hund, aber im Gegensatz zu diesem weiß er nicht, wohin er sich wenden soll.
Dann entdeckt er den Hundebesitzer, der hinter einem Felsblock auftaucht. Es ist ein älterer Mann, vielleicht schon Rentner, mit einer Lederjacke. Auf dem Kopf trägt er einen Hut mit einer lächerlichen grünen Feder. Der Hund geht jetzt bei Fuß und winselt jämmerlich.
Einige durchfröstelte Sekunden – erfüllt von Überraschung und Bestürzung, aber auch von gegenseitigem Misstrauen – bleiben die beiden Männer stehen und starren sich wortlos und wie versteinert an. Der Hundebesitzer hat einen kräftigen Knüppel in der Hand. Er
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