Schuldlos ohne Schuld
wäre auch falsch, sie als abweisend zu deuten.
Als der Mann sich jetzt Oiva und den anderen zuwendet, hat die Geste etwas Verschwörerisches. Jemand muss etwas sehr Lustiges gesagt haben, da sie alle plötzlich in lautes Lachen ausbrechen. Unmittelbar darauf streckt der Finne seinen Arm aus und winkt Martin mit gekrümmtem Zeigefinger heran. Dies ist eine deutliche Einladung, es liegt aber auch etwas Höhnisches in der Gebärde, das Martin zögern lässt. Dann, nach nur wenigen Sekunden des Nachdenkens, das – wie er hofft – nicht zu lange gedauert hat, entscheidet er sich. Er nickt mehrmals antwortend, fast zu dankbar, während er gleichzeitig seine Würde zu wahren sucht. Natürlich würde er hinüberkommen. Er würde es sich nie verzeihen, wenn er diese Möglichkeit nicht wahrnähme, an die Begegnung mit Oiva wieder anzuknüpfen.
»Wo willst du hin?«, fragt der Polsterer verwundert und bricht seine Reminiszenzen mitten im Satz ab, als sich Martin mit seinem halbleeren Bierglas in der Hand erhebt.
»Ich will zu den Finnen hinüber«, antwortet er. »Ich hab einen Bekannten dort, der mit mir sprechen will.«
»Du bist nicht ganz gescheit«, sagte der Este aufrichtig, ohne deshalb böse zu sein.
In seinem Gesicht kann man große Enttäuschung lesen. Er ist nicht weiter als bis zur Hälfte seiner Erzählung gekommen.
»Das ist ein gefährliches Volk«, fährt er warnend fort. »Außerdem sind sie besoffen, und da muss man sich vor ihnen in Acht nehmen.«
Martin bleibt noch ein wenig, als ob er die Warnung überdenkt. Er weiß, dass sie nicht unberechtigt ist. Allzu oft waren üble Hintergedanken vorhanden, wenn jemand ihn zu sich gerufen hat. Es gab eine Zeit, als einige ihn hier wie einen Hanswurst behandelten, aber die Zeit ist vorbei. Andererseits hat er nur gute Erfahrungen mit Finnen. Zuerst war es Kalle und jetzt … Oiva.
»Ich glaube, du irrst dich«, antwortet Martin deshalb leicht anmaßend, aber auch, um sich selbst Mut zu machen. »Es gibt keine gefährlichen Menschen«, fügt er hinzu. »Das weißt du genauso gut wie ich.«
Manchmal kann es durchaus einen Grund geben, auch auf den Rat eines enttäuschten, alternden Polsterers zu hören. Martin wird sich später der Warnung erinnern. Als er zum Tisch der Finnen hinüberkommt, lächelt er breit und verbeugt sich höflich vor Oiva. Sie kichert etwas, sonst antwortet niemand auf seine Begrüßung. Natürlich rutschen sie ein wenig zur Seite, um ihm Platz zu machen, sie tun dies aber nicht ohne Proteste und sind geizig mit der Fläche. Schließlich glückt es ihm, sich halbwegs auf die Bankkante zu quetschen.
»Hallo, Oiva«, sagt Martin und versucht Augenkontakt mit ihr zu bekommen. Sie antwortet nicht, und der Mann der zwischen ihnen sitzt, ein blonder, etwas dreißig Jahre alter Kerl mit einem flotten Tangobart und stechenden schwarzen Augen, schiebt sein unangenehmes Gesicht so nah an Martin heran, dass er nichts anderes sehen kann. Es ist derselbe Kerl, der Martin vorhin zugewunken hat und ihn einlud herüberzukommen.
»Kennst du Oiva?«, fragt der Finne mit seinem singenden, gebrochenen Schwedisch.
Eine Dusche von Speichel, vermischt mit Bier, Branntwein und Schnupftabak, sprüht über Martins Gesicht. Es ist jetzt ganz still am Tisch.
»In gewisser Hinsicht«, antwortet Martin etwas verlegen. Sein Lächeln ist sehr gutmütig und er strengt sich an, aufgeschlossen und gesellig zu wirken.
»Wir haben uns unterhalten«, fährt er fort. »Am Sonntagmorgen. Nicht wahr, Oiva?«
Sie antwortet auch jetzt nicht, und es kommt Martin vor, als sei es ihr peinlich.
»Du behauptest also, dass du sie kennst?«, wiederholt der Finne langsam, und jetzt hat sich das Schwarze in seinen Augen vertieft.
»Kennen und kennen. Wir haben uns getroffen.«
Plötzlich lächeln alle zusammen, aber es ist ein bösartiges Lächeln, und dann beginnen sie Finnisch miteinander zu reden. Der Finne neben Martin wendet sich an Oiva und überschüttet sie mit Fragen. Zuerst antwortet sie knapp, während sie gleichzeitig ihren Kopf schüttelt. Dann werden die Antworten immer länger und die Stimme immer schriller. Man sieht ihr an, dass sie die anderen zu überzeugen versucht. Ihre Stimme ist ins Falsett übergegangen, und es liegt etwas Flehendes darin.
Martin ist jetzt beunruhigt, und er weiß nicht recht, was er tun soll. Er ist nicht ängstlich, aber sehr enttäuscht. Was ist mit Oiva los? Sie ist nicht mehr dieselbe wie am Sonntag. Martin fühlt, dass das
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