Schuldlos ohne Schuld
der Straße und verfolgte die Arbeit. Es sind dieselben Schuhe, die im Fenster gezeigt werden. Als einziges ist ein kleines Schild hinzugekommen, das mitteilt, dass das Geschäft nun mit einer Alarmanlage versehen ist.
Es war nicht ein einziges Wort über die Angelegenheit in der Tageszeitung zu lesen, nicht einmal im Lokalblatt. Martin hatte sie alle genau gelesen. Es ist, als wäre überhaupt nichts passiert. Die Menschen, die vorbeigehen, sprechen von ganz anderen Dingen. Er hat keinen einzigen gehört, der sich über das Geschehene entrüstet hätte.
Nichts also ist geschehen, und man muss also den Schluss ziehen, dass alles sinnlos oder ein Traum war. Vielleicht sind deshalb die Schmerzen im Kopf wiedergekommen. Als ob es die Strafe wäre, die er bezahlen muss, nicht für das, was er tat, sondern weil seine Tat nichts verändert hat und deshalb sinnlos war.
Er darf nicht länger stehen bleiben.
Die Leute starren ihn schon an.
Vielleicht glauben sie, dass er verdächtig aussieht. Er hat doch so viel Verstand, um einzusehen, dass er sich keinem Verdacht aussetzen darf. Kein normaler Mann stellt sich hin und gafft in ein Schaufenster mit Damenschuhen.
Martin rückt die dunkle Brille zurecht, wirft den Kopf mit Schwung zurück und macht auf dem Absatz kehrt. Dann lacht er in die Luft hinaus, laut und höhnisch. Er lacht über sich selbst. Trotzdem wird in den Augen der Leute, die sich in der Nähe befinden, leichter Schrecken sichtbar.
Martin ist auf dem Heimweg, aber in derselben Richtung liegt die Kneipe. Er glaubt, dass einige Biere das starke Hämmern dämpfen könnten. Natürlich wäre eine handfeste Sauferei viel besser, das kann er sich aber nicht leisten. Er rechnet und rechnet, und da er auf die Krone genau weiß, wie viel Geld er bei sich hat, glaubt er, dass es reichen könnte. Wenn er in den nächsten Tagen auf Leerlauf schaltet und daheim vor dem Fernsehapparat bleibt, müsste das Geld für Zigaretten und Lebensmitteleinkäufe reichen, aber auch – und das ist das Wichtigste – für drei Starkbier am Abend.
Oiva, die muntere Zeitungsausträgerin mit den prüfenden Augen. Sie sitzt eng zusammen mit vier Landsleuten im mittleren, abgeteilten Bereich der Kneipe. Sie sind sehr laut, und keiner von ihnen ist richtig nüchtern. Auch nicht Oiva. Manchmal kann Martin ihr schrilles Lachen durch die Kaskaden finnischer Worte hören, die zu ihm dringen, die er aber nicht versteht. Das Lachen klingt in seinen Ohren wie ein spöttischer Lockruf, und Martins Gesicht strahlt einschmeichelnd und wohlwollend, während er sich bemüht, nicht zu aufdringlich zu wirken. Er starrt die ganze Zeit in ihre Richtung und hofft, dass sie ihn endlich erblickt. An das Hämmern im Kopf denkt er überhaupt nicht. Es ist ganz einfach verschwunden.
Martin entscheidet sich für den Tisch weit hinten im Lokal, an dem er auch sonst meistens sitzt. Heute Abend ist es fast voll, und obwohl es einige freie Plätze näher bei Oivas Tisch gibt, wagt er nicht das Risiko, abgewiesen zu werden. Er teilt den Tisch mit einem Polsterer, der am Kriegsende aus Estland geflüchtet ist und den er von früher kennt. Der Polsterer ist nach einigen Bieren und Schnäpsen geschwätzig und begrüßt Martin mit einem Altmännergrinsen. Er ist an diesem Abend ausgegangen, um wieder von seinen Erinnerungen an den Krieg und das alte Land zu sprechen. Manchmal scheint es, als wäre seitdem nichts in seinem Leben geschehen. Martin hat alles früher schon gehört, aber da er nicht unhöflich wirken will, murmelt er hier und da zustimmenden Worte. Das reicht, um den Polsterer in Gang zu halten. Eigentlich spricht er ja nur zu sich selbst.
Oiva hat den Arm um den Hals eines der Männer gelegt, die neben ihr sitzen. Sie sieht richtig zärtlichkeitsbedürftig aus, und ihr Gesicht leuchtet irgendwie. Das hatte Martin nicht erwartet. Der Mann scheint außerdem ein ungehobelter Typ zu sein. Er entdeckt Martin, als dieser sich halb aufrichtet und in ihre Richtung winkt. Einen Augenblick lang glaubt Martin, dass Oiva ihn endlich beachtet hat, aber sie schaut nicht einmal zu ihm hin. Stattdessen beugt sie sich vor und sagt etwas zu der Frau ihr gegenüber. Dann lachen sie beide, laut und vernehmlich, fast, als ob sie dabei erstickten.
Martin hat den Finnen nie zuvor gesehen, und es überrascht ihn, dass dieser sein Winken beantwortet. Martin weiß nicht recht, was er davon halten soll, und setzt sich wieder. Es lag eine Spur Abneigung in der Geste, aber es
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