Schuldlos ohne Schuld
nächsten Sekunde schüchtern veilchenblau. Nein, nicht so. Eher violett in derselben Farbe wie der blaue Fleck auf dem Schenkel, nachdem sie vor langer Zeit ihre Unschuld verloren hat.
Martin lässt sie gewähren, wobei er ein wenig vor sich hin brummt.
Unterdessen hat sich der Sohn des Libanesen an den Tisch geschlichen. Er ist es, der serviert. Er hat die glänzenden schwarzen Augen des Vaters geerbt, aber der Rücken ist weicher. Trotzdem wirkt er in keiner Weise unterwürfig. Er verhält sich ruhig abwartend, aber es ist etwas Gespanntes, Wachsames an ihm, das zeigt, dass er alles voll wahrnimmt, was um ihn herum geschieht. Aus Erfahrung weiß er, dass die Straße von tödlicher Gefahr sein kann und dass man alles mögliche von Menschen erwarten muss, denen es nur krampfhaft gelingt, ihre Verrücktheit unter Kontrolle zu halten. Er ist ein Mann, der sich nicht überraschen lassen will.
»Cognac«, sagt die Frau mit einem anmaßenden Ruck ihres Nackens.
»Einen doppelten Cognac.«
Sie bittet nicht, sie befiehlt auf eine herablassende Weise, wie man einen Diener zweiter Klasse behandelt, die Stimme ist jedoch schrill und enthüllt ihre Angst und Ohnmacht.
Ein Schatten huscht über das Gesicht des jungen Libanesen. Er kämpft mit der Nachsicht und der Verachtung, die nicht sichtbar werden dürfen. Dann beugt er sich leicht nach vorn zu der Frau, als wolle er ihr ein Geheimnis anvertrauen.
»Ich bedaure«, sagt er leise, »aber erst muss ich um Bezahlung des ersten Drinks und auch um des bestellten bitten.«
»Was zur Hölle wagst du anzudeuten?«, schreit die Frau und steht wütend auf.
»So ein verdammter Scheißladen. Was sind das denn für Türkensitten?«
Martin glaubt einen Augenblick, dass sie den Tisch umwerfen will. Gleichzeitig ahnt er mehr als er sieht, dass die glotzäugigen Gesichter hinter der Scheibe wieder näher zusammenkriechen, und er begreift, dass er etwas unternehmen muss. Mit einem festen Griff packt er den Arm der Frau und zieht sie grob auf den Stuhl herunter, dass sie zu wimmern beginnt.
»Beruhige dich«, sagt er herrisch mit seiner dröhnenden Bassstimme. »Warum machst du Radau? Es ist doch klar, dass wir unseren Cognac bekommen.«
Der Libanese ist einige Schritte zurückgetreten und wartet noch ab, ohne irgendein Erstaunen zu zeigen. Die beiden Männer sehen einander an, und Martin lächelt sein großes, offenes Lächeln, das so viele missverstanden haben.
»Bringen Sie auch die Rechnung mit!«, sagt er freundlich.
Da lockert sich das Gesicht des Libanesen in einem zustimmenden, wohlwollenden Lächeln, und er senkt leicht den Kopf.
»Natürlich«, antwortet er höflich.
Martin stößt einen befreienden Seufzer aus. Das hat er gut gemacht. Er will keinen Streit haben und gedenkt auch nicht, sich von der Frau provozieren zu lassen.
Sie dagegen ist noch immer nicht im Gleichgewicht. Mit starren, wütenden Blicken versucht sie erneut, sich vom Stuhl zu erheben, mit einem zugespitzten Mund, der wie ein Trichter geformt ist. Sie macht Anstalten, hinter dem jungen Kellner her zu spucken, der ihr den Rücken zugewendet hat und auf dem Weg ins Restaurant ist.
Martin reagiert schnell. Jetzt muss ein Ende gemacht werden. Er presst seine kräftige Faust auf den Mund der Frau, und seine Hand wird pitschnass von ihrem Speichel. Zuerst windet sie sich auf dem Stuhl und stemmt sich dagegen. Dann scheint sie sich zu beruhigt zu haben, und Martin lockert den Druck.
»Verdammter Kerl …«
Martins Faust drückt ernsthaft zu, und es gurgelt in ihrem Hals.
»Beruhige dich«, sagt er barsch. »Willst du, dass jemand die Polizei holt?«
Sie wird fast sofort sanft, und als sie die Zähne in Martins Hand setzt, ist das kein richtiger Biss, sondern eher eine Liebkosung. Er zieht die Hand zurück und trocknet die nasse Handfläche am Hosenbein. Sie lächelt ein wenig, richtet ihr Haar und zieht den Rock einige Zentimeter herunter. Dann wendet sie sich ihm zu und spitzt wieder den Mund, aber jetzt ist es eine bittende, demütigende Handlung, der, wie sie glaubt, niemand widerstehen kann. Ihr Vater hielt sie für ganz unwiderstehlich, als sie ein kleines Mädchen war. Einen flimmernden Augenblick erinnert sie sich, dass er tot ist. Ihr treten Tränen in die Augen, die Martin anflehen, sie zu verstehen. Sie wünscht sich nur, von ihm beschützt zu werden.
Martin hat es nicht begriffen.
»Was ist mit dir los?«, fragt er, und auch wenn seine Stimme nicht unfreundlich ist, klingt sie wie eine
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