Schule der Lüfte wolkenreiter1
Lage ließ der Anblick der Stute ihr Herz höher schlagen.
Margret hatte recht. Der Verlust ihres Reittiers musste für eine Pferdemeisterin wie eine Vorahnung des eigenen Todes sein. Natürlich gab es immer noch genug Arbeit zu erledigen, es mussten Fohlen gezüchtet und auf die Welt gebracht werden, es galt, die Mädchen zu erziehen und zu unterrichten. Aber durch die Luft getragen zu werden, auf die grüne, braune und weiße Landschaft und die blauen Wasserflächen hinunterzusehen und hoch über den alltäglichen Belangen zu schweben, war durch nichts zu ersetzen.
Mit Sonis Nase an ihrer Schulter wandte sich Philippa der Flugkoppel zu. Sie konnte es kaum erwarten, sich in den frostigen, goldenen Morgen zu erheben.
Die Türen des Schlafsaals wurden geöffnet, und über den Hof hinweg vernahm sie das Geschnatter der Mädchenstimmen. Zeit, aufzubrechen. Mit ein bisschen Glück wür de sie Friedrich beim Frühstück antreffen. Und wenn ihr das Glück besonders hold war, war er vielleicht allein.
Kapitel 5
D ie schnellste Route zum Palast des Fürsten führte di rekt über Oscham hinweg. Für den kurzen Flug schob Philippa ihre Sorgen beiseite und genoss es, sich mit ein paar kraftvollen Flügelschlägen von Soni hoch in die Lüfte zu erheben und dem Rauschen des Windes zu lauschen. Sie folgten dem geschwungenen Verlauf des Breiten Stroms, der sich seinen Weg zwischen den Kuppeln und Türmen der Weißen Stadt bahnte. Philippa blickte über ihre Schulter zurück auf die kupferne Kuppel des Turms der Zeiten, der mit dem blaugrünen Teppich des Meeres im Hintergrund um die Wette glitzerte. Wie eine dicke, fette Hochzeitstorte tauchte dahinter die weiße Marmor-Rotunde auf, an der die Wimpel mit den Wappen der Adelsfamilien wehten. Das war der Rat der Edlen.
In ihrer Kindheit hatte Philippa regelmäßig einen Großteil des Jahres in der Weißen Stadt verbracht. Sie hatte ihre Mutter und ihre Schwestern zu gesellschaftlichen Veranstaltungen begleitet, sie hatten Konzerte besucht und waren mit ihren Ponys im Park ausgeritten. Jetzt über alles hinwegzufliegen, gefiel ihr allerdings noch besser, über die riesigen Gebäude des Rates der Edlen, den großen gepflasterten Hof des Turms, die breiten Straßen, in denen der Adel flanierte und seine Einkäufe erledigte, sowie über das benachbarte Arbeiterviertel mit seinen engen Gassen. Soni hob und senkte gleichmäßig die Flügel und legte sich auf
die Seite, um in Richtung Norden zu fliegen. Ohne darüber nachzudenken, verlagerte Philippa das Gewicht, um sich dem Winkel der Stute anzupassen. Sie flogen schon seit zwanzig Jahren zusammen, und Soni kannte den Weg zum Palast genauso gut wie sie. Auf besonderen Wunsch des Fürsten hatten sie dort gedient. Damals hatte sie sich im Palast beinahe genauso zu Hause gefühlt wie heute in der Akademie. Ihr war klar, dass diese Tage für immer vorbei waren; ihr Freund und Mentor war gescheitert, und nun versuchte sein Sohn, die Macht an sich zu reißen.
Sie näherten sich dem Palast von Süden her und schlugen einen Bogen, um aus nördlicher Richtung zu landen. Soni flog den Park mit dem Wind im Rücken an. Philippa saß tief im Sattel und überließ der Stute die Führung, die zunächst langsamer mit den Flügeln schlug und sie dann einfach nur ausbreitete. Ruhig glitten sie dahin, und vor Philippa breiteten sich die Palastanlagen aus. Gärtner nutzten das unerwartete Frühlingswetter, gruben die Beete um und befreiten die Hecken von abgestorbenen Zweigen. In den Stallungen herrschte lebhaftes Treiben, und auf der Weide sah sie einige Pferde des Fürsten grasen. Philippa wünschte, sie würde Friedrich wie in alten Zeiten dabei antreffen, wie er – eskortiert von einer Formation der Noblen – zu irgendeinem Staatsbesuch aufbrach. Sie wusste, dass er den Palast seit dem Verschwinden von Pamella nicht mehr verlassen hatte, und wahrscheinlich würde er es auch nicht mehr tun.
Soni sank mit gestrecktem Hals nieder und zog die Hinterläufe an. Als die Vorderbeine der Stute den Boden berührten, half Philippa Soni das Gleichgewicht zu halten, indem sie ebenfalls Spannung aufbaute, die Ellbogen dicht an den Körper zog, die Hacken nach unten drückte und
sich leicht im Sattel zurücklehnte. Die Landekoppel des Fürstenpalastes war lang und schmal. Übermütig von dem kurzen Flug, galoppierte Soni über die gesamte Strecke hinweg, schüttelte die Trense und ließ den Schweif durch die Luft sausen. Ihre Flügelspitzen glitten durch das
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