Schule für höhere Töchter
unmittelbarer Nähe gab es keine hohen Häuser, das Theban war mit seinen zehn Stockwerken das höchste. War das eine Straße, in der irgend jemandem etwas besonders auffallen würde? Am belebtesten war die Straße am Nachmittag, wenn die Busse kamen, um die jüngeren Schülerinnen heimzufahren. Nur dann gab sich das nüchterne, fast wie eine Behörde wirkende Gebäude als Schule zu erkennen. Wie alle vornehmen Mädchenschulen in New York hatte sie nämlich weder einen Namen noch ein Schild an der Tür, das sie verraten hätte. Entweder wußte man, daß dies das Theban war, oder es ging einen nichts an.
Miss Tyringham begrüßte Kate mit einer Art erschöpfter Erleichterung.
»Es geht Ihnen doch gut, oder?« fragte Kate. »Ich habe mich so daran gewöhnt, zu sehen, wie Menschen in bedeutender Position im akademischen Leben müde und krank werden und pessimistisch ihre Hoffnungen aufgeben, daß ich mir vielleicht vorschnell Sorgen mache. Aber Sie machen einen nervösen Eindruck.«
»Ach, das ist nur so eine leichte Grippe, die ich anscheinend immer bekomme, wenn der Winter in den letzten Zügen liegt, nichts Ernstes, meine Mutter nannte das immer das Auf-und-Ab. Soweit diese Erklärung«, fügte sie hinzu. »Aber selbstverständlich mache ich mir Sorgen.«
»Wegen der Leiche?«
»Unter anderem. Wir sprechen zwar nicht offen darüber, wissen Sie, aber wir haben eine Menge Probleme – wir, das sind in diesem Zusammenhang diejenigen, die an privaten Schulen die Verantwortung tragen. Ich meine nicht bloß lange Hosen und die Protestaktionen oder die Bedrohung durch Drogen. Einige von unseren Schülerinnen kommen gar nicht mehr zur Schule, besonders in den höheren Semestern. Ich glaube, wenn veröffentlicht würde, wie viele Jugendliche aus den mittleren und gehobenen Gesellschaftsschichten New Yorks einfach die Schule schwänzen – was der Himmel verhüten möge –, die Mr. Jablons würden sich zu Recht Sorgen machen.«
»Glauben Sie, Angelicas Fernbleiben hat auch damit zu tun?«
»Vielleicht, vielleicht auch nicht. Sie hat wirklich eine schwere Zeit hinter sich. Sie ist jetzt wieder zu Hause, will aber nichts von der Schule wissen.«
»Zu den Dingen, die ich Sie fragen wollte, gehört auch, ob Sie etwas dagegen hätten, wenn ich Angelica besuche. Natürlich werde ich höflich bei ihrem Großvater anfragen, aber er wird wohl kaum ablehnen, wenn Angelica das nicht tut. Stört es Sie, wenn ich mich auch mit ihm unterhalte?«
»Nein, wohl kaum. Wir müssen diesen Dingen auf den Grund gehen, soweit das ohne eine Psychoanalyse von mindestens fünfzehn Jahren Dauer überhaupt möglich ist.«
»Lange Einzelanalysen geraten aus der Mode, glaube ich. Es gibt neuerdings Encountergruppen, in denen man sich ausagiert und so.«
»Wirklich? Nun, um ehrlich zu sein, ich konnte nie besonders großes Vertrauen in die Psychoanalyse aufbringen, obwohl im Laufe der Jahre eine beachtliche Anzahl unserer Schülerinnen eine Therapie oder gar Analyse gemacht haben. Zeitweise schien es zum guten Ton zu gehören, wie eine Kieferregulierung, und die war, bei großzügiger Schätzung, vermutlich in zwanzig Prozent der Fälle notwendig.«
»Haben Sie hier etwas von Encountergruppen gehört?«
»Hier im Theban? Nein.« Sie sah Kate an. »Du liebe Güte, Sie versuchen mir etwas schonend beizubringen, oder wenn nicht, dann habe ich es trotzdem verstanden. Egal, ich will es nicht wissen. Ich hatte recht, was die ›Antigone‹ angeht, oder? Ist sie nicht immer noch relevant?«
»Langsam finde ich, daß das sogar in außergewöhnlichem Maße der Fall ist. Als Kreon, zum Beispiel, schließlich einsieht, daß er unrecht hatte, Polyneikes nicht begraben zu lassen und Antigone für ihren Ungehorsam zu bestrafen, will er sie aus dem unterirdischen Verlies befreien, in das er sie einsperren ließ. Unterwegs hält er an, um Polyneikes zu begraben, und als er das Verlies erreicht, ist es zu spät. Sie ist tot und mit ihr alle, die ihm etwas bedeutet haben. O nein, machen Sie nicht so ein betroffenes Gesicht, ich kündige keine weiteren Leichen an, ich schlage nur vor, daß wir uns in erster Linie um Angelica kümmern – einfach nur, um meine Idee im Gespräch zu halten, ein ganz gängiger Zeitvertreib an der Universität.«
»Ja, meine Liebe. Sehen Sie zu, wie Sie mit den Jablons zurechtkommen. Seien Sie so gut. Was steht sonst noch auf Ihrem Plan?«
»Noch ein paar langweilige Fragen. Erzählen Sie mir in wenigen Worten etwas über die
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