Schule versagt
ausbaden müssen. Was tun die Eltern wirklich mit ihrem antiautoritären Verhaltenskodex? Einerseits verwöhnen sie ihr Kind und andererseits überfordernsie es. Teure Markenkleidung, biologisch einwandfreie Nahrung, Handy und Computer schon für Vorschulkinder, ökologisch getestetes Nobelspielzeug, das sind äußere Symbole dafür, dass Kinder heute nicht mehr Teil, sondern Mittelpunkt der Familie sind, die Sonne in ihrem eigenen kleinen Kosmos, um die sich alles dreht. Andererseits werden sie, meist mit vollen Terminplänen bereits im Kleinkindalter, hoffnungslos überfordert. Der elterliche Ehrgeiz, getarnt als Förderung des Kindes, sorgt dafür, dass alle Tage einer Woche ausgefüllt sind mit Sport-, Musik-, Mal-, Fremdsprachen-, Töpfer- oder ähnlichen Kursen. Welches Kind rebelliert da nicht? Zumal wenn es merkt, dass hier keine elterliche Liebe im Spiel ist, sondern das Wettrennen um das klügste, beste, intelligenteste Kind mit den perfekten Eltern. Die Folgen dieser Erziehungsbuch-Erziehung sind verhaltensauffällige Kinder ohne soziales Verhalten. Konkurrenz wird zur Grunderfahrung, die zudem noch, da eben viel zu früh erfahren, eine sehr niedrige Frustrationsschwelle produziert. Versagensängste sind vorprogrammiert und werden ausgelebt als – zumindest – verbale Gewalt sowohl den Mitschülern als auch den Lehrern gegenüber. Damit einher geht eine Anspruchshaltung.
Diesen Kindern Grenzen zu setzen, ist unabdingbar notwendig. Auch als Jugendliche schaffen sie es, den Unterricht in einer Weise zu stören, die nachhaltig wirkt, wenn sie nicht sofort unterbunden wird. So gesehen ist die mangelnde Fähigkeit, sich zu konzentrieren, ein Anfangssignal bzw. eine milde Form der Unterrichtsstörung. Das Schlimme daran ist, dass in solch einer Situation oder vielleicht sogar bereits Konstellation Disziplinarmaßnahmen eingesetzt werden müssen. Auch wenn sie begleitend zu Gesprächen – mit Eltern und Kind oder mit dem Jugendlichen – angewendet werden, so sind sie aus meiner Sicht sehr unangenehm. Und ebenso schlimm ist, dass diese viel zu verspätete Erziehungsmaßnahme leicht hätte vermieden werden können. Der elterliche Narzissmus bringt sein eigenes Abbild hervor, und auch das Angstmotiv der Eltern – »Ich darf nicht versagen!« – reproduziert sich. Das beginnt heute bereits im Säuglingsalter. Eltern setzen nicht mehr auf Erfahrung und Intuition, sondern auf Bücher voller Regeln. Besonders seit dem Jahr 2008 ist der Markt für Eltern-Ratgeber explodiert. 4 Alles wird thematisiert, alles problematisiert: »Es wird nachgeschlagen: Wie kann ich mein Kind richtig erziehen? Ernähren? Fördern? Beschützen? Lieb haben?« 5 Die letzte Frage ist besonders aufschlussreich: Ich lese nach, wie ich mein Kind lieb habe?! Wie ich das machen muss: S. 22 bis 34 im Ratgeber Nr. 17.
Lehrer, die an Grundschulen arbeiten, haben mir bestätigt, dass es heute viele Kinder gibt, die nicht ein einziges Mal so etwas wie einen Schulweg kennengelernt haben. Täglich werden sie von einem Elternteil mit dem Auto gebracht und wieder abgeholt. Eines von vielen treffenden Beispielen für ein weiteres Produkt dieser »Erziehung«: Unselbstständigkeit. Und damit das vollkommene Fehlen der Erfahrung, selbst etwas erprobt und, vielleicht sogar unter Schwierigkeiten, geschafft zu haben. Das Selbstbewusstsein, das dadurch hätte generiert und gefördert werden können, bleibt bei der »Generation Rücksitz« 6 auf der Strecke. Ängstlichkeit, oft überdeckt durch Aggressivität, ist die Folge. Genervte und verunsicherte Eltern, tyrannische Kinder und überforderte Lehrer – das hat Vorschläge auf den Plan gerufen, die wir alle kennen: die Rufe nach Disziplin. 7 »Disziplin ist das Tor zum Glück.« 8 Damit setzt man auf alte Rezepte wie Kontrolle und die Erhebung von Sekundär- zu Primärtugenden.
Wieder einmal soll das Kind mit dem Bade ausgeschüttet werden. Ohne jeden Zweifel müssen Kinder bzw. Jugendliche (leider) oft nachträglich, und damit ungleich schwieriger, neben anderen Maßnahmen auch diszipliniert werden, wenn sie die genannten Verhaltensmuster zeigen. Aber es ist abwegig, diese Erziehungsmethode samt der dahinterstehenden Ideologie zur generellen Norm erheben zu wollen. Ich habe den Schülern meiner Klasse durchgängig deutlich zu machen versucht, dass ich nichts von Disziplinierung halte – aber sehr viel von Selbstdisziplin. Und die muss in erster Linie vorgelebt werden. Bei
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