Schule versagt
dabei zum Begleiter des Lernprozesses, als Förderer, als Aktivität Einfordernder, im Idealfall als Mentor. Das ist in gewisser Weise entlastend, weil der ständige Zwang zum Vortanzen entfällt. Weniger anstrengend ist es nicht, weil die volle Konzentration des Lehrers für jeden einzelnen seiner Schüler gefordert ist, das individuelle Eingehen auf Probleme mit Inhalten und Methoden. Interessanter und weniger frustrierend ist es allemal. Aus Passivität geborene Aggressionen entfallen. Der Lernprozess wird von den Schülern als steuerbar erlebt, Fortschritte vermerkt und Eigeninitiative durch Erfolg belohnt. Wie bei jedem kreativen Prozess sind positive Emotionen häufige Begleiter bei der produktiven Suche nach der richtigen Lösung. Frustrationen durch Misserfolge werden durch die begleitende Funktion des Lehrers vermieden oder in der Weise gemildert, dass man lernt, mit ihnen umzugehen. Voraussetzung dafür ist das Betrachten des Scheiterns als Chance, es beim nächsten Mal zu schaffen. Die Einstufung als Versager gibt es nicht. Jeder hat die Chance, sich weiterzuentwickeln, je nach fachlichen Schwerpunkten in unterschiedlicher Qualität. Aber selbst ein Fortschritt in einem Fach, in dem man nur mäßige Leistungen erbringt, ist ein Fortschritt. Das ist eine Verhaltensnorm, die Handlungsorientierung zu nennen sicher nicht falsch ist. Aber der Begriff deckt nicht das gesamte Spektrum der Problematik ab. Handlungsorientierung meint die Orientierung der Schüler auf aktives Handeln im Unterricht von Beginn an. Von der bei der PIS A-Studie so erfolgreichen Helene-Lange-Schule in Wiesbaden wissen wir, dass z. B. Vortragstraining, wenn es selbstverständlich und regelmäßig praktiziert wird, dazu führt, dass Schüler es als normalen Schulalltag erleben, vor einem Publikum angstfrei zu referieren. 2 Ich habe diese Erfahrung mit meiner Klasse selbst gemacht. Jeder konnte jederzeit vor der Klasse vortragen, es war der Normalfall. Schüler, die derart sozialisiert sind, verändern sich drastisch. Handlungsorientierung geht dann weit über Unterrichtssituationen hinaus. Sie wird zur Lebenseinstellung. Und dadurch wird sie mehr als nur die Orientierung auf aktives Handeln. Schon der Denkansatz ist ein anderer als beimpassiv-rezeptiven Normalschüler, ebenso wie das Selbstgefühl. Konzentration stellt sich von allein ein, wird übrigens auch eingefordert von den Mitschülern. Die gesamte Persönlichkeit ist involviert. Das ist es, was ich meine, wenn ich sage, mit »Handlungsorientierung« sei nicht umfassend genug beschrieben, was man erreichen kann. Proaktivität ist der treffendere Begriff dafür.
Die Schwierigkeit der Etablierung einer neuen Rollennorm liegt aber nicht nur beim Selbstverständnis der Lehrer und der Schüler. Nicht wenige Schüler bringen heute aus ihrem Elternhaus eine Norm mit, die lautet: »Jeder kann machen, was er will!« Diese Form der »Freiheit« wird unhinterfragt gesetzt. Ich war immer wieder erstaunt darüber, wie weit verbreitet die Norm bereits ist. In Elterngesprächen wurde die Formel auch wiederholt, wodurch eindeutig klar wurde, woher die betreffenden Schüler sie hatten. Auf die Folgen dieser »Freiheit« angesprochen, reagierten diese Eltern meist erstaunt. Sie taten das, weil die Norm so selbstverständlich war, dass sie nie infrage gestellt wurde. Die Formel »Ihre Freiheit endet dort, wo meine beginnt; meine endet dort, wo Ihre beginnt« war neu für sie. Das Thema wurde in der Presse unter Titeln wie »Erzieh mich!« 3 behandelt, Untertitel: »Kinder wollen Regeln, Eltern ihren Frieden. Warum die Wohlfühlgesellschaft kleine Monster schafft«. Hier und in anderen Artikeln und Büchern mit dieser Thematik ist die Rede davon, wie Eltern mit guten Vorsätzen in die Erziehungsarbeit hineingingen, »kleine Monster« produzierten und selbst genauso unglücklich wurden wie ihre tyrannischen Kinder. Wie ist das möglich?
Zunächst stellt sich die Frage, ob die Vorsätze der Eltern wirklich so gut waren. Aus subjektiver Sicht mag das so sein. Wer Dutzende von Erziehungsratgebern gelesen, ein Erziehungsideal im Sinne größtmöglicher »Freiheit« entwickelt und die Norm »Argumente statt Regeln« für sich etabliert hat, der mag davon ausgehen, er habe alles getan, um seinem Kind autoritäres Elternverhalten zu ersparen und seine Entwicklung bestmöglich zu fördern. Stimmt das so? Sicher nicht, wenn man auf das Ergebnis blickt, das auch die Lehrer dieser Kinder später mit
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