Schumacher, Jens - Deep
als er sich klarmachte, dass sich über seinem Kopf Abertausend Tonnen Gestein auftürmten, vom zusätzlichen Gewicht zahlloser übergewichtiger US-Touristen ganz zu schweigen.
»Aber das war längst nicht alles.« Wren Becker näherte sich der Wand unterhalb des Gerüsts. Ihr Gesicht hatte im Licht der Scheinwerfer einen rötlichen Glanz angenommen. »In dem Raum unbekannter Herkunft fand man dies hier.« Beinahe zärtlich legte sie eine Hand auf die gemeißelten Symbole.
Henry verengte die Augen. Zum ersten Mal sah er die allgegenwärtigen Zeichen aus der Nähe. Sie waren erstaunlich präzise gearbeitet, lange Abfolgen komplexer eckiger Formen und geometrischer Körper. Bildliche Darstellungen schienen nicht darunter zu sein, die Abbildungen erweckten eher den Eindruck, als handele es sich um Schriftzeichen.
Verwirrt stellte Henry fest, dass die fremdartigen Winkel eine unbestimmte Furcht in ihm wachriefen. Sie erinnerten ihn an etwas, auch wenn er auf Anhieb nicht zu sagen vermochte, woran.
»Die Muster sehen ganz anders aus als die oben am Tempel«, stellte er mit trockenem Mund fest. »Keine Buddhas, keine Drachenköpfe, nicht einmal Stupas.«
»Eben das macht diesen Raum zu einer so außergewöhnlichen archäologischen Entdeckung«, pflichtete ihm Dr. Becker bei. »Die Inschriften weisen keinerlei buddhistische Inhalte auf.«
»Seit fast einer Woche fotografieren, vermessen und katalogisieren wir die Schriftzeichen mit modernsten Mitteln«, führte Henrys Vater aus. »Am Ende dieser Arbeiten soll eine vollständige 3-D-Computerdarstellung des Gewölbes stehen. Bislang ist uns dabei weder eine buddhistische Darstellung untergekommen noch ein Symbol, das Ähnlichkeit mit irgendeiner Schriftsprache hätte, die wir aus dieser oder einer anderen Region der Erde kennen.«
»Das heißt, ihr wisst nicht, wer die Inschriften geschaffen hat?«, vergewisserte sich Henry. »Oder was hier geschrieben steht?«
Wren Becker schüttelte den Kopf. »Bisher nicht. Aber wir arbeiten hart daran, das herauszufinden. Ich hoffe, es wird nicht mehr lange dauern, bis wir in der Lage sind, ersten Symbolen eine Bedeutung zuzuweisen. Von da an ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis unsere Analysesoftware den Code entschlüsseln kann.«
Dr. Wilkins seufzte. »Ich hoffe, das passiert, bevor das indonesische Forschungsteam hier auftaucht. Dann wird es hier nämlich ziemlich chaotisch zugehen, und mit dem ruhigen Arbeiten ist es erst mal vorbei.«
»In einem Punkt sind wir uns dagegen sicher.« Dr. Becker kam wieder unter dem Gerüst hervor. Als Henry sie fragend ansah, fuhr sie fort: »Der Buddhismus als Glaubensrichtung existiert in Indonesien seit vielen Tausend Jahren. Dass die Darstellungen hier unten gänzlich ohne die Symbolik dieses Religionskreises auskommen, lässt nur einen Schluss zu.«
»Nämlich?«
»Dass der Borobudur damals auf den Ruinen einer wesentlich älteren Kultstätte errichtet wurde.«
3
150 SEEMEILEN SÜDLICH VON JAVA,
23. SEPTEMBER 2013
Mit gleichbleibender Geschwindigkeit zerteilte das Schiff die nächtliche See, viertausend Tonnen hochfester Stahl, verteilt auf fast hundert Meter Länge. Zwei mächtige Dieselmotoren mit jeweils fünfzehnhundert Pferdestärken dröhnten gut gedämmt in den Tiefen des Maschinenraums. Unter anderen Umständen hätten sie dem Schiff zu einer Höchstgeschwindigkeit von zwölf Knoten verholfen. Heute jedoch war es erheblich langsamer unterwegs.
Denn es transportierte eine schwere Last.
Trotz der nachtschlafenden Stunde war noch jemand an Deck. Eine einsame Gestalt, die an der Steuerbordreling stand und mit verkniffenen Augen auf die See hinausstarrte.
Das kalte Licht der Sterne fiel auf einen eleganten, altmodisch geschnittenen Gehrock, dessen Schöße im böigen Westwind flatterten. Das Haar des Mannes, schwarz bis auf eine einzelne, von der linken Schläfe bis zum Hinterkopf reichende weiße Strähne, rührte sich nicht. Es war glatt an den Kopf gekämmt, das blutleere Licht der Mondsichel hoch droben glänzte auf der Pomade, mit der es gefestigt worden war.
Minutenlang verharrte der Mann ohne jede Regung am Rand des Decks. Dann fuhr ein Ruck durch seinen Körper, seine knochigen Hände gaben ihre Umklammerung der Reling auf. Er wandte sich nach rechts und marschierte langsam Richtung Achterdeck.
Im Vorbeigehen sah der Mann zu dem fünfstöckigen Decksaufbau auf. Neben zwölf Labors mit insgesamt über dreihundert Quadratmetern Arbeitsfläche enthielten
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