Schumacher, Jens - Deep
jedem ihrer Worte wurden auf dem leuchtenden Display Buchstaben sichtbar – eine Stimmerkennungssoftware, die ihre Worte sofort in Schrift umwandelte.
»Abweichung kleiner/gleich drei Millimeter. Ähnliches bei den Winkeln: Übereinstimmung auf null Komma fünf Grad. Gesamtanzahl der Symbole unverändert einhundertfünf, dazu sieben, bei denen eine Verwendung als Satz- oder Rechenzeichen angenommen werden kann.« Sie schaltete den Dokumentationsrekorder aus und bedachte die steinerne Wand mit einem letzten kritischen Blick. »Wenn ich nicht sicher wüsste, dass die Erschaffer dieser Schriftzeichen keinerlei moderne Maschinen zur Verfügung gehabt haben, ich würde es nicht glauben. So was von präzise!« Sie ging in die Hocke und glitt über den Rand der Laufplanke. Für einen kurzen Augenblick hing sie nur an den Händen in der Luft, wobei ihre hochrutschende Bluse einen flachen, durchtrainierten Bauch entblößte. Dann ließ sie sich die restliche Distanz zum Boden fallen, landete geschmeidig und richtete sich ohne sichtbare Anstrengung vor Henry und den beiden Männern auf.
»Henry, das ist Wren Becker aus New York«, stellte sein Vater die Frau vor. »Sie ist Expertin für alte Sprachen und nebenbei eine ausgezeichnete Kryptoanalytikerin. Das bedeutet, sie dechiffriert Schriftzeichen, deren Bedeutung lange vergessen ist oder die absichtlich codiert wurden, um ihren Inhalt geheim zu halten. Letztes Jahr gelang ihr die Entschlüsselung einer Inschrift in der Beisetzungskammer der Kirche vom heiligen Grab in Jerusalem. Sie war in einem extrem seltenen israelischen Dialekt verfasst und enthielt bislang unbekannte Fakten zum Leben Jesu Christi.«
»Kleine Fische.« Dr. Becker winkte ab und schenkte Henry ein strahlendes Lächeln. »Du bist Donalds Sohn, wie? Ich freue mich, dich kennenzulernen! Dein Vater hat mir schon eine Menge von dir erzählt.«
Henry erwiderte das Lächeln. Dr. Becker war ihm sympathisch. Für eine Schreibtischtäterin schien sie außerdem ziemlich gut in Form zu sein.
Dieser Ansicht war offenbar auch Josh Taper, der dicht neben Henrys Ohr etwas murmelte, das sich anhörte wie: »Na, hab ich übertrieben?«
»Henry stellte gerade fest, dass wir uns an einem Ort befinden, den es eigentlich überhaupt nicht geben dürfte«, verkündete Dr. Wilkins.
Wren Becker nickte begeistert. »So kann man es ausdrücken.« Sie deutete zur Decke hinauf. »Wir befinden uns quasi im Herzen des Borobudur. Der Tempel wurde …«
»Der Name ›Borobudur‹ rührt von dem altsprachlichen Ausdruck Bhumisambharabudara her«, mischte sich Josh Taper unvermittelt ein. »Das bedeutet so viel wie ›Berg des Königs der Berge‹.«
»Vielen Dank, Josh.« Dr. Becker erwiderte den Beifall heischenden Blick des Doktoranden mit halb geschlossenen Augen. »Ich bin erstaunt, dass bei Ihnen zur Abwechslung mal etwas von dem hängen geblieben zu sein scheint, was ich Ihnen beigebracht habe. Und das sogar länger als die üblichen dreißig Sekunden.«
Taper errötete und räusperte sich umständlich. Dann kehrte er mit gesenktem Kopf zu seinen Gesteinsproben zurück.
Dr. Becker sah ihm schmunzelnd nach, bevor sie sich wieder Henry zuwandte. »Der oberirdische Tempel wurde zwischen 780 und 850 nach Christus gebaut, höchstwahrscheinlich von der damals recht einflussreichen Shailendra-Dynastie. Bereits zwei Jahrhunderte nach seiner Vollendung geriet er in Vergessenheit und wurde vom Dschungel überwuchert. Wieso es dazu kam, weiß niemand, auch seine genaue Funktion ist bis heute ein Rätsel. Da der Tempel keinen Innenraum zu haben schien, nahm man an, er könnte als reines Symbol gedacht gewesen sein. Für den Glauben seiner Erbauer oder als Stätte für Meditation und Gebete.«
»Man ging davon aus, die Konstrukteure des Tempels hätten eine natürliche Anhöhe mit Quadern aus Andesit und Tuffgestein verkleidet«, fuhr Henrys Vater fort. »Groß angelegte Restaurierungsarbeiten in den Siebzigerjahren des letzten Jahrhunderts schienen diese Theorie zu belegen. Damals trug man die gesamte äußere Hülle ab und setzte sie instand, bevor man sie, ergänzt durch stützende Stahlstrukturen und zusätzliche Drainagen, wieder befestigte. Zu keinem Zeitpunkt dieses Mammutprojekts stieß man auf einen Hinweis, dass sich im Innern etwas anderes befinden könnte als Erde und Stein. Die Entdeckung dieses Gewölbes exakt unterhalb des Borobudur ist daher eine echte Sensation.«
Ein leichter Schauer rieselte Henry über den Rücken,
Weitere Kostenlose Bücher