Schutzlos: Thriller (German Edition)

beim Haus seiner Eltern gewesen, in der Nähe von Ashburn. Vielleicht wohnt er dort.«
    Ich kannte das Haus. Nachdem Loving Abe getötet hatte, haben wir von dem Haus erfahren, in dem er aufgewachsen war. Aber es war vor Jahren verkauft worden, und wir hatten uns danach nicht mehr darum gekümmert. Das sagte ich dem Arzt, aber er meinte: »Na ja, genau genommen wurde es aber gar nicht verkauft.«
    Ich runzelte die Stirn und bat ihn fortzufahren.
    »Auf dem Papier natürlich schon. Der Deal lief so, dass Henry und seine Schwester – die Erben – es dem Mann, dem es jetzt gehört, billig verkauften. Aber er musste sich bereit erklären, es ihnen für … ich glaube, es waren zwanzig Jahre oder so, wieder zu vermieten. Henrys Schwester war krank – unheilbar –, und ich nahm an, er wollte, dass das Anwesen nicht unter seinem Namen lief, aber dafür sorgen, dass Marjorie einen Ort hatte, an dem sie bis zu ihrem Tod leben konnte.«
    Henry Lovings einziger enger Familienkontakt war diese Schwester gewesen, ein paar Jahre älter als er. Sie hatte an Krebs gelitten, doch gestorben war sie vor einigen Jahren bei einem
Bootsunfall. Ihr Freund, der das Motorboot auf dem Occoquan River betrunken gesteuert hatte, war nicht lange danach ebenfalls ums Leben gekommen. Meiner Ansicht nach steckte Loving hinter seinem Tod; auch der junge Mann war ertrunken, aber in seiner Badewanne – und er hatte dieselben Symptome gezeigt wie jemand, der zwei, drei Stunden lang einem Waterboarding ausgesetzt gewesen war.
    Ich wusste nicht mehr, wo das Haus der Familie stand. Frank Loving suchte die Adresse heraus, und ich notierte sie.
    »Ist er jetzt auf Schmerzmittel?«, fragte ich dann.
    »Er wollte keine mitnehmen.«
    Nein, Henry Loving würde den Schmerz aushalten, um einen klaren Kopf zu behalten.
    »Ich habe ihm ein paar fertig aufgezogene Spritzen gegen den Schmerz mitgegeben. Lokal wirksam.« Frank sah auf seine großen Hände hinab. »Ich erinnere mich aus der Zeit, als wir Kinder waren, an ihn. Es war nicht so, als ob er Leute verhauen hätte oder ständig in Schlägereien verwickelt gewesen wäre. Ganz im Gegenteil. Er war still, höflich. Ich weiß noch, dass er immer beobachtet hat.«
    »Was beobachtet?«
    »Alles. Er hat nichts gesagt, nur beobachtet. Er war klug. Wirklich klug. Das Fach, in dem er am besten war, war Geschichte.«
    Einer meiner Abschlüsse. Es war etwas, das ich nicht gewusst hatte über Loving.
    »Freddy?«, rief ich.
    Der Agent erschien im Eingang.
    »Ich habe eine Spur. Schicken Sie die Teams nach Ashburn.« Ich riss den Zettel mit der Adresse, die mir Frank gegeben hatte, aus meinem Notizbuch und gab sie dem FBI-Mann. Ich konnte sie bereits auswendig.

33
    Die Leute wollen nichts mit der Vergangenheit zu tun haben.
    Ich nehme an, das ist natürlich. Wenn wir zusammenrechnen, was wir im Lauf der Jahre alles gesagt und getan haben, mögen trotz aller schönen Erinnerungen die Dinge, die wir bedauern, zwar weniger sein, aber sie ragen deutlicher heraus, wie glühende Kohlen, die wir nie ganz zu löschen vermögen, sosehr wir es auch versuchen.
    Doch ohne Vergangenheit würde meine Arbeit nicht existieren. Ob es die guten Taten von Leuten wie Ryan Kessler sind, die sie ins Visier eines Lifters rücken, oder ob es die blutige Geschichte von professionellen Killern ist, immer werde ich als Folge dessen aktiv, was Monate oder Jahre zuvor passiert ist.
    Im Moment jedoch, da ich so schnell ich konnte durch die Dämmerung über die rutschigen Straßen fuhr, die mich zum Loudoun County zurückbringen würden, dachte ich aus einem anderen Grund an die Vergangenheit. Zwanzig Minuten vor mir lag die Vergangenheit des Mannes, der meine Mandanten bedrohte, und diese Vergangenheit konnte sehr nützlich sein, wenn es darum ging, seiner Gegenwart auf die Spur zu kommen.
    Die Vergangenheit des Mannes, der meinen Mentor gefoltert und getötet hatte.
    Und ich wünschte mir so sehnlich, mich durch die Zeit zurückschnippen zu können und so viel wie möglich über ihn in Erfahrung zu bringen.
    Nach dem, was sein Cousin mir erzählt hatte – dass nämlich der Verkauf des Hauses tatsächlich nur ein Trick gewesen war –, konnte es sein, dass das Haus jahrzehntealte Familienfundstücke beherbergte. Würde ich Bilder von Loving als Kind finden? Spielsachen, mit denen er gespielt hatte?
    Ich musste wieder an einen der ersten Aufträge denken, die ich DuBois gegeben hatte, vor der Begegnung mit Loving in Rhode Island. Ihre