Schutzlos: Thriller (German Edition)
Kessler aus dem Haus gehumpelt kam wie ein Bär nach dem Winterschlaf.
Pogue und ich begrüßten ihn mit einem Nicken.
»Und?« Der Detective blickte in Richtung Außengebäude.
»Noch nichts.«
Wir standen schweigend da. Ryan hatte die Hände in der Tasche und starrte auf den Boden. Seine Augen waren rot.
»Wie geht es Maree?«
»Die hält sich gut.«
Weiteres Schweigen.
Dann hörte man das Geräusch eines Schlosses, und die Tür ging auf. Ryan fuhr zusammen. Pogue und ich nicht.
Joanne kam aus dem Panikhaus und verkündete: »Ich hab’s. Ich weiß, wo Amanda ist.«
Ohne ein weiteres Wort ging sie uns in Richtung Haus voraus und wischte sich mit Desinfektionstüchern das Blut von den Händen.
59
Der »Grim Trigger« ist ein interessantes Konzept aus der Spieltheorie.
Er kommt bei sogenannten »wiederholten Spielen« zum Einsatz – wenn also dieselben Gegner das gleiche Spiel wieder und wieder gegeneinander spielen. Irgendwann einigen sich die Spieler auf Strategien, die das bestmögliche gemeinsame Wohl gewährleisten, auch wenn es von ihrem jeweiligen Eigeninteresse weit entfernt ist. Zum Beispiel lernen sie beim Gefangenendilemma, dass sie am besten abschneiden, wenn sie nicht gestehen.
Aber manchmal wird Spieler A »abtrünnig«, er durchbricht das Muster, indem er gesteht, was bedeutet, er kommt ungestraft davon, während Gefangener B eine wesentlich höhere Strafe bekommt.
Spieler B könnte daraufhin »Grim Trigger« spielen, jede Art von Kooperation aufgeben und sich von da an für alle Zeit abtrünnig verhalten.
Man kann es auch so ausdrücken, dass, wenn ein Spieler beschließt, ein einziges Mal nicht nach den Regeln zu spielen, sein Gegner von da an ausschließlich und rücksichtlos nur noch nach Eigeninteresse handelt.
Es gab in dem tödlichen Spiel zwischen Henry Loving und mir natürlich keine Kooperation, aber diese Theorie fand dennoch Anwendung. Mit der Entführung eines Teenagers zu dem Zweck, ihn zu foltern und Informationen zu erpressen, war Loving aus meiner Sicht abtrünnig geworden.
Ich spielte nun »Grim Trigger.«
Was bedeutete, dass ich Joanne Kessler – in ihrer Daseinsform als Lily Hawthorne – auf Lovings Mitarbeiter McCall losgelassen hatte, um ihm Informationen zu entreißen. Auf jede Weise, die nötig war. Ich bin gut im Verhören, aber es hätte viel Zeit gebraucht, jemanden wie McCall, der große Angst vor Henry Loving hatte, zum Reden zu bringen.
Ich brauchte jemanden, den er noch mehr fürchtete.
Daher meine subtile Anfrage an Joanne vorhin im Wohnzimmer, deren schreckliche Euphemismen sie auf Anhieb verstand, wie ich an ihren Augen gesehen hatte.
An seinen Anstand appellieren?
Als Amandas Stiefmutter, ja.
Sie und ich waren dann zum Außengebäude gegangen. McCall hatte von seinem schweren Stuhl aufgeblickt, angstvoll, das ja, aber fest entschlossen, Loving nicht zu verraten. Als ich Ahmad mit einer Handbewegung aus dem Raum scheuchte, hatte McCall nervös und heiser gelacht. »Sie haben diesen Voodoo-Blick drauf, Corte. Was ist los?«
Joanne Kessler hatte eindeutig keinerlei Blick drauf. Sie musterte ihn nur.
»Warum sagt niemand etwas?« Seine Stimme stockte.
Die bedrohliche Atmosphäre im Raum erinnerte mich an das Verhör Zagaews, das Bert Santoro und ich vor nicht langer Zeit inszeniert hatten.
Nur dass es diesmal echt war.
Joanne hatte mir zugenickt, und ich war zu einer Schalttafel in der Wand gegangen, hatte einen Schlüssel eingeführt und
mehrere Tasten gedrückt. »Keine Kommunikation rein oder raus«, hatte ich gesagt. »Video ist aus. Sie sind unsichtbar.«
»Hören Sie, Joanne«, hatte McCall verzweifelt gesagt. »Ich kann Ihnen nicht helfen, so leid es mir tut. Ich wünschte, ich könnte es, aber ich kann nicht. Ich empfinde mit Ihnen, wirklich, und wenn ich Ihnen irgendwie …«
Sie hatte ihn gar nicht beachtet, sondern sich nur zu mir umgedreht. »Gibt es irgendwelche Werkzeuge hier?«
»Unter der Spüle. Nichts Tolles.«
»Das ist alles, was ich brauche.« Dann hatte Joanne die Tür geschlossen.
Ein weiteres Merkmal des Außengebäudes war, dass seine Erbauer es vollkommen schalldicht konstruiert hatten. Der Grund dafür war, dass die Mandanten keine Drohungen oder Forderungen von außen hören sollten.
Die logische Folge war, dass man auch keine Schreie von drinnen hörte.
Die Nacht hatte sich auf das Gelände gesenkt, als wir uns auf der vorderen Veranda des sicheren Hauses versammelten. Joanne wirkte nicht
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