Schutzlos: Thriller (German Edition)
starrte blind auf den Bildschirm und ließ die Schultern hängen. Sie trug kein Make-up und an Schmuck nur ihre Uhr und den Ehe- und Verlobungsring, während Maree, wie ich mich erinnerte, geschmückt war wie ein Weihnachtsbaum. Joanne untersuchte einen ihrer abgebrochenen Nägel. Ich trat an ein Fenster, spähte zwischen den Vorhängen durch und rief Aaron Ellis an. Ich berichtete, wie es bei uns voranging, sagte ihm allerdings nicht, wo wir waren und zu welchem der drei oder vier Dutzend sicheren Häuser der Regierung in der Gegend wir fahren würden. Das erfuhr nur, wer es wissen musste. Wenn ein anderer Schäfer oder ein Agent aus Freddys Büro zur Verstärkung herangezogen wurde oder – wie es jetzt gleich geschehen würde – unser Fuhrparkmann ein neues Fahrzeug brachte, rückte ich mit der Information heraus. Aber ich versuchte immer, die Zahl der Menschen, die den Aufenthaltsort der Mandanten kannten, so gering wie möglich zu halten.
Es ist nicht so, als würde ich Kollegen nicht trauen, aber ich zweifle keine Sekunde daran, dass Henry Loving, falls es ihm gelänge, an meinen Boss heranzukommen, alles tun würde, um in Erfahrung zu bringen, wo sich meine Mandanten aufhielten. Ellis hatte eine bezaubernde Frau, Julia, und drei Kinder, die exakt vierzehn Monate auseinanderlagen, wobei das älteste acht war. Loving hätte Ellis in zehn Minuten so weit, dass er den Aufenthaltsort meiner Mandanten verraten würde.
Ich nahm es ihm kein bisschen übel. Ich würde es unter solchen Umständen auch tun. Abe Fallow hatte selbst zu mir gesagt, als ich bei unserer Organisation anfing: »Hör zu, Corte. Regel Nummer eins, und es ist eine Regel, über die wir nur untereinander sprechen, lautet: Letztlich sind unsere Mandanten nichts als Gegenstände. Sie sind ein Dutzend Eier, Kristallvasen, Glühbirnen. Gebrauchsgegenstände. Du riskierst dein Leben für ihre Sicherheit. Aber du opferst dich nicht für sie. Vergiss das nicht.«
Ellis stellte ein paar Fragen, aber ich spürte, dass er noch etwas anderes auf dem Herzen hatte. Deshalb kam ich ihm zuvor und sagte: »Westerfield hat angerufen.«
»Ich weiß. Er sagt, Sie sind nicht rangegangen … Oder war es ein Anruf in Abwesenheit?«
»Ich bin nicht rangegangen. Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass ich ihn im Augenblick nicht gebrauchen kann bei der Sache. Können Sie ihn mir vom Hals halten?«
»Ja.« Aber es war ein verseuchtes Ja. »Lassen Sie ihn einfach von Zeit zu Zeit wissen, was sich tut«, ordnete mein Boss an.
»Kann ich es Sie wissen lassen, und Sie sagen ihm Bescheid?«
»Rufen Sie ihn doch schnell mal an. Was kann es schaden?«, sagte er tadelnd, wie ein Bruder, der den anderen an den Geburtstagsanruf bei Mutter erinnert.
Ich gab nach und versprach es.
»Wir wissen nicht, wo sich Loving aufhält?«, fragte Ellis.
»Nein.«
»Und wie steht es mit einem Komplizen?«
»Er hat einen, das ist bestätigt. Wir haben eine ungefähre Beschreibung.« Ich berichtete von dem großen Mann mit dem sandfarbenen Haar, der bei Kesslers Haus gesehen worden war. »Mehr wissen wir nicht über ihn. Ich mache jetzt lieber Schluss, Aaron. Ich werde mit Ryan über seine Fälle reden. Jetzt, da kein Lifter zu sehen ist, will ich unbedingt damit vorankommen, den Auftraggeber zu finden.«
Nachdem wir aufgelegt hatten, bat Joanne um mein Telefon und rief ihre Stieftochter an. Sie wahrte weiter tapfer die Fassade gegenüber Amanda. Sie sagte, sie würde am Montag in der Schule anrufen und das Mädchen entschuldigen. Es schien, als machte es Amanda aufrichtig zu schaffen, dass sie die Schule und ihre verschiedenen außerschulischen Aktivitäten verpasste.
Sie erinnerte mich an mich selbst in diesem Alter. Ich war tatsächlich gern zum Unterricht gegangen. Ich mochte die Präzision des Lernens, ich mochte es sogar, geprüft zu werden. Ich langweilte mich schnell – tue es bis heute –, und die Schule war zunächst nur eine lästige Pflicht für mich gewesen. Aber als ich anfing, sie als eine Folge von zunehmend komplexeren Spielen zu begreifen, widmete ich mich dem Unterricht intensiv. Einmal wollte mein Vater, dass ich zu einem Fest mit ihm in die Kanzlei fuhr. Ich freute mich, dass er mich einlud. Aber ich sagte, ich sei krank. Sobald er gegangen war – meine Mutter schlief noch –, warf ich die Decke von mir – ich war bereits vollständig angezogen – und eilte zur Schule. Ich kenne kein anderes Beispiel, wo ein Schüler krank gespielt hat, damit er die
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