Schutzlos: Thriller (German Edition)
Entscheidung.
Doch wenn sie nicht gestehen, handeln sie mit sogenannter »rationaler Irrationalität«.
In der realen Welt findet die Spieltheorie in Wirtschaft, Politik, Psychologie und militärischer Planung Anwendung. Bankkunden etwa wissen vielleicht, dass es besser ist, nicht ihre gesamten Ersparnisse von einer Bank abzuheben, wenn diese in Schwierigkeiten ist, denn wenn sie es tun, tragen sie zu einer Panik bei, die Bank wird zusammenbrechen, und alle werden verlieren. Andererseits
verlieren sie gar nichts, wenn sie zu den Ersten gehören, die ihr Geld in Sicherheit bringen, also zum Teufel mit dem Allgemeinwohl. Indem sie alle Mittel schnell abheben, kann rational irrationales Handeln sie individuell retten, auch wenn es einen Run auf die Bank auslöst und diese in den Ruin treibt.
Wie wirkt sich das auf meine Aufgabe als Schäfer aus?
Da weder ich noch Gegner wie Henry Loving wissen, welche Züge der jeweils andere machen wird, wende ich die Spieltheorie ständig dabei an, die beste Strategie zum Sieg zu finden – wobei Strategie hier nicht eine allgemeine Vorgehensweise, sondern eine konkrete Maßnahme ist, wie »Bauer auf Turm sieben« oder bei Schere, Stein, Papier die Faust zu wählen.
Hier bestand meine Strategie darin, auf die Fliegenfalle zu setzen in der Annahme, dass Henry Loving wahrscheinlich eher die rationale Entscheidung treffen würde: den Köder anzunehmen.
Die Spieltheorie existiert jedoch wegen der Unsicherheit – am Spielbrett und im wirklichen Leben. Vielleicht würde Loving spüren, dass es eine Falle war, und da er wusste, dass ich mit der Sache befasst war, die Gelegenheit dazu nutzen, das wahre sichere Haus der Kesslers in Erfahrung zu bringen.
Oder würde er eine völlig andere Strategie wählen, etwas, auf das ich überhaupt nicht kam, womit ich aber sogar jetzt schon auf brillante Weise ausmanövriert wurde?
Ich näherte mich der Hauptstadt des Landes. Ich rief Claire DuBois wieder an. »Ich brauche eine Menschenmenge. Ein Fest, eine Parade. Im District. Ich glaube nicht, dass ich verfolgt werde, aber ich will sichergehen. Was hätten Sie da für mich?«
»Eine Menschenmenge. Okay. Wie groß? Im Stadion läuft ein Spiel, aber, tut mir leid, so wie die in dieser Saison spielen, dürfte die Menge nicht allzu groß sein. Dann haben wir eine Liebesroman-Autorin und das Cover-Modell ihrer Bücher – sie machen eine Signierstunde im Safeway in North West.«
Woher wusste sie das, ohne irgendwo nachzusehen?
»Wie viele Leute gehen zu Signierstunden von Liebesromanen in Lebensmittelmärkten?«
»Sie würden sich wundern.«
Wie wahr. »Aber ich brauche etwas Größeres. Und in der City. Sagen wir von tausend Leuten aufwärts.«
»Zu schade, dass nicht Frühling ist«, sagte sie. »Ich selbst gehe ja nicht zum Kirschblütenfest. Wenn die Kirschblüten etwas täten , wenn man da ist, wäre es etwas anderes. Aber ich habe nie ganz verstanden, dass man hingeht, um Bäume anzuschauen. Mal sehen, mal sehen …« Ich hörte Tippen, ich hörte Armbänder klimpern.
»Da ist nicht viel«, sagte DuBois. »Eine Schwulenrechteparade die Connecticut Avenue hinauf zum DuPont Circle. Eulen nach Athen tragen, geschätzte vierhundert Leute… Eine mexikanisch-amerikanische Parade im Südosten, aber die geht gerade zu Ende. Ah, na also. Die größte Sache sind die Demonstranten vor dem Kongress. Das sind etwa zweitausend Leute.«
»Klingt gut.«
Die Leute waren dort, um für oder gegen eine Nominierung zum Obersten Gerichtshof zu protestieren, erklärte sie. Ich wusste ungefähr, dass der Kandidat, der voraussichtlich mit ein, zwei Stimmen Mehrheit im Senat bestätigt werden würde, konservativ war, weshalb die Linken Leute herankarrten, um gegen ihn zu demonstrieren, während die Republikaner ihre eigenen Truppen zur Unterstützung mobilisiert hatten.
»Wo genau?«
Sie sagte es mir – es war nicht weit vom Bürogebäude des Senats –, und ich legte auf und steuerte in diese Richtung. Fünf Minuten später fuhr ich dank meines Bundesausweises langsam zwischen den Demonstranten umher und an Sperren vorbei, die jeden, der mich verfolgte, stoppen würden. Die Unterstützer des nominierten Richters waren auf der einen Seite der Linie,
die Gegendemonstranten auf der anderen. Mir fiel auf, wie bösartig die Beleidigungen und sogar Drohungen waren, die zwischen beiden Lagern hin- und herflogen.
Ich erinnerte mich, dass ich in der Post vor Kurzem eine Serie über die zunehmende
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