Schutzlos: Thriller (German Edition)
bei dem Dodge herumzudrücken, statt sich dem Lagerhaus selbst zu nähern, wie er es getan hätte, wenn er tatsächlich in unsere Falle gegangen wäre.
Er hatte gewusst, dass es eine Falle war, aber er war das Risiko eingegangen. Natürlich nicht, um Ryan Kessler zu kriegen, sondern um mich zu entführen. Und ich würde ihm nach genügend Zwang verraten, wo sich die Kesslers aufhielten. Ich war plötzlich zum Ziel geworden.
Lovings ruhige Augen in dem fleischigen, unscheinbaren Gesicht eines in die mittleren Jahre kommenden Geschäftsmanns prüften rasch die Lage und stellten hier, ein Stück vom Kommandoposten und dem Lagerhaus entfernt, keine unmittelbare Gefahr fest.
Mir wurde plötzlich bewusst, dass ich dem Mann, der meinen Mentor gefoltert und getötet hatte, noch nie so nahe gekommen war. Bei dem missglückten Versuch, ihn auszuschalten in Rhode Island, war ich nie näher als vielleicht dreißig Meter an ihm dran gewesen. Nahe genug, um zu sehen, wie er leicht die Augen zusammenkniff, als er abdrückte – einen Sekundenbruchteil, bevor er erkannte, dass er in eine Falle gegangen und der Mandant in Wirklichkeit ein Agent hinter einem unsichtbaren, kugelsicheren Schirm gewesen war.
Keiner von uns beiden sprach jetzt ein Wort. Sein Plan sah natürlich vor, dass wir reden würden, aber später und im Heck seines Fahrzeugs oder in einem anderen verlassenen Lagerhaus irgendwo weit entfernt. Er überlegte vielleicht, wie lange ich durchhalten würde, ehe ich ihm verriet, wo Ryan Kessler war.
Denn Henry Loving wusste, ich würde reden. Jeder redete früher oder später.
Da meine Waffe, das Funkgerät und das Handy auf dem Boden lagen, und in dem Wissen, dass seine Zeit begrenzt war, winkte Loving mich zu sich.
Ich ging vorwärts, die Hände auf Schulterhöhe erhoben, um zu zeigen, dass ich keine Gefahr darstellte, und mein Blick blieb auf ihn geheftet. Ich konnte ihn nicht abwenden. Nicht weil seine Augen so intensiv oder konzentriert waren – auch wenn es zutraf –, sondern weil sie das Letzte gewesen waren, das Abe Fallow gesehen hatte, als er starb. Ich wusste das, weil die Kugel aus nächster Nähe abgefeuert worden war und Abe in die Stirn getroffen hatte. Die Männer mussten einander angesehen haben. Ich dachte oft über Abes letzte Augenblicke nach, manchmal stundenlang, ehe ich einschlafen konnte. Er hatte die neuen Namen und die Wohnorte der fünf Mandanten preisgegeben, die er beschützt hatte. Aber ich hatte auf dem nicht abgeschalteten Handy mitgehört. Zwischen dem Moment, in dem Abe die Adresse des letzten Zeugen geflüstert hatte, und dem tödlichen Schuss waren rund dreißig Sekunden vergangen. Was war in dieser Zeit passiert? Wie hatten ihre Mienen ausgesehen? Was, wenn überhaupt etwas, war geflüstert worden?
Das war vielleicht der Grund dafür, warum ich so davon besessen war, Henry Loving zu fangen. Nicht nur, weil er Abe Fallow getötet hatte, sondern weil er den Mann gezwungen hatte, seine letzten Augenblicke in Todesangst und Verzweiflung zu verbringen.
Die Hände gehorsam zur Seite gestreckt, begann ich mich zu fragen, was sich Schäfer unter solchen Umständen immer fragen: Wie lange halte ich unter der Folter durch?
»Lovings Mittel sind einfach. Meist verwendet er Schmirgelpapier und Alkohol bei empfindlichen Körperteilen. Hört sich nicht so schlimm an, funktioniert aber wirklich gut.«
Die Frage war jedoch rein theoretischer Natur, etwas, das mir plötzlich in den Sinn kam, als ich vorwärtstrat.
Denn anders, als es aussah, war ich in diesem Augenblick nicht der Spieler auf der Verliererstraße.
Der war Loving.
Der wahre Köder hier waren nicht das Lagerhaus und die Andeutung, dass sich Kessler darin befand.
Der wahre Köder war ich.
Die Falle funktionierte gänzlich anders, als es den Anschein hatte.
Und jetzt war der Moment gekommen, sie zuschnappen zu lassen.
Ich kniff die Augen zusammen und hob die Hände über die Schultern. Das war das vereinbarte Signal für die beiden FBI-Teams, die sich in der Nähe versteckt hielten.
Und als ich mich zu Boden fallen ließ, sah ich aus den Augenwinkeln das Entsetzen in Lovings Blick, als die Explosionen einsetzten. Sie waren ohrenbetäubend. Ich spürte die Schockwelle und die Hitze, während ich über den Boden rollte, um an meine Waffe, das Funkgerät und das Handy heranzukommen. Die starken Blendgranaten detonierten weiter entlang der Linie, an der ich sie fünfzehn Minuten vorher von den Teams drei und vier, die mir
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