Schwaben-Angst
Kollegen zum Böblinger Bahnhof fahren. Die S-Bahn zum Feuersee kam wenige Minuten später. Der Zug war nur schwach besetzt. Er nahm in einer freien Vierergruppe Platz, zog seine Schuhe aus, legte die Füße hoch. Seiters Ausführungen spukten ihm durch den Kopf. Wie war der Inhalt der an ihn gerichteten Drohbriefe einzuordnen?
Schluss mit dem Jugendwahn. Respekt vor älteren Menschen. Ein Ende der Anbiederung an junge Leute. Achtung vor der Lebenserfahrung der Älteren. – Das waren die Forderungen, deren Realisierung wegen der Täter zu morden bereit war?
Braig wusste nicht, was er davon halten sollte. Irgendwie kamen ihm die Worte Seiters unwirklich vor. Ein Verbrecher, der buchstäblich über Leichen ging, sollte sich mit solch pauschalen Forderungen begnügen?
Eine laute, männliche Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. Zwei Sitzgruppen weiter diskutierte ein junger Mann mit einem unsichtbaren Gesprächspartner, das Handy am Ohr.
Braig erinnerte sich, dass er immer noch keine Gelegenheit gefunden hatte, Frau Dorn zu sprechen, schaute auf seine Uhr. Zwanzig nach zehn. War es erlaubt, so spät noch zu stören?
Er zog das Blatt hervor, auf dem er sich die Kölner Nummer notiert hatte, wählte. Vergeblich. Braig ließ es sechsmal läuten, brach den Versuch dann ab.
Der Zug hielt, zwei Frauen stiegen in seinen Wagen ein. Er beobachtete sie, wie sie langsam durch den Zug gingen, dann eine Sitzgruppe vor ihm Platz nahmen. Die Ältere erinnerte ihn in Aussehen und Bewegung an seine Mutter. Wann hatte er sich zuletzt mit dieser unterhalten?
Braig zögerte nicht lange, wählte ihre Nummer. Sie nahm sofort ab.
»Ich bin’s«, sagte er, »du bist noch nicht im Bett?«
»Ich habe dir doch erzählt, an was ich arbeite«, antwortete sie mit deutlichem Vorwurf in der Stimme, »so schnell werden wir nicht fertig.«
Er hatte es völlig vergessen. Seit Wochen war sie damit beschäftigt, gemeinsam mit der Ärztin, die sie nach ihrem Infarkt im Krankenhaus behandelt hatte, eine Dokumentation über Grenzerlebnisse im Bereich des Todes zu erstellen – ein Thema, das sie seit ihrer Genesung unablässig verfolgte. »Um diese Zeit noch?«, fragte er.
»Du weißt genau, wie schlecht ich schlafe. Ist es nicht besser, meine Zeit mit sinnvoller Arbeit zu verbringen, als unnütz und mit Schmerzen im Bett zu liegen?«
»Vollkommen richtig, Mama. Wie weit seid ihr?« Er musste sie loben, ihr gut zusprechen, durfte kein kritisches Wort hören lassen, um ihr beiderseitiges Verhältnis nicht erneut zu belasten. Es war trotz eines leichten Trends zum Besseren problematisch genug.
»Ich sammle immer noch Berichte. Vom Leben drüben. Du weißt, was ich meine?«
Sie hatte es ihm ausführlich erzählt, über Wochen, ja Monate hinweg. Seit ihrem Infarkt war sie sich absolut sicher, dass es ein Jenseits gab, eine andere Welt, in der Frieden, Licht und Wärme herrschten.
»Wie viele Berichte habt ihr bis jetzt?«
Ihre Antwort ließ nicht lange auf sich warten. »Pedesetdva.« Sie sagte es zuerst auf Jugoslawisch, ihrer Muttersprache, wiederholte die Zahl dann auf Deutsch: »Zweiundfünfzig.«
»So viele?«, wunderte sich Braig.
»Es werden noch mehr«, sagte sie, »Claudia, also Frau Dr. Ohlrogge hat mit Kollegen an anderen Krankenhäusern gesprochen. Sie werden uns helfen.«
»Und alle berichten von denselben Erlebnissen?«
»Wie ich es dir erzählt habe«, sagte sie, »es ist schön dort. Wunderschön. Alles ist hell, überall siehst du nur Sonne und Licht. Ein strahlend helles, leuchtendes Licht. Und alles ist voll bunter Farben. Es gibt keinen Streit mehr, keine Eifersucht, keinen Hass. Nur Wärme und Liebe. Das berichten alle. Du kannst mir glauben, es stimmt.«
Sie arbeitete wie besessen an ihrem Projekt, hoffte darauf, es gemeinsam mit der Ärztin bald einer breiten Öffentlichkeit vorstellen zu können. Braig hatte vor Wochen schon telefonisch bei Dr. Ohlrogge nachgefragt und sich der Seriosität dieser Arbeit versichert. Er wollte nicht noch einmal mit ansehen müssen, wie sie wieder einer religiösen Sektierergruppe anheim fiel.
»Das freut mich für dich, Mama«, sagte er. Er hörte, wie die beiden Frauen vor ihm laut lachten, verabschiedete sich von seiner Mutter. »Ich hoffe, dass euer Projekt großes Aufsehen erregt und möglichst vielen Menschen bekannt wird. Das ist eine ganz wichtige Sache.«
Manchmal musste man lügen, um andere Menschen glücklich zu machen.
28. Kapitel
Die Nachricht vom Tod des Kollegen
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