Schwaben-Angst
erreichte Braig, als er am frühen Mittwochmorgen im obersten Stockwerk des LKA aus dem Fahrstuhl trat. Er hatte sich kurz nach halb sieben vom Wecker aus dem Schlaf holen lassen, hatte flüchtig geduscht und gefrühstückt, war dann mit großen Schritten zur S-Bahn und ins Amt geeilt.
Neundorf stand vor der Tür zu ihrem Büro, starrte mit seltsam in die Ferne gerichteten Augen an ihm vorbei, schien seine Anwesenheit überhaupt nicht zu bemerken. »Bernhard ist tot«, sagte sie.
»Bernhard?« Braig schaute sie überrascht an. Er war auf vieles vorbereitet, hatte auf einen Fortschritt ihrer Untersuchungen gehofft, sich die Identifizierung der beiden noch nicht ermittelten Männer der Liste gewünscht, insgeheim gar ein weiteres vergiftetes Opfer befürchtet, alles hatte er erwartet – das jedoch nicht.
»Er ist heute Nacht im Klinikum in Ludwigsburg gestorben«, erklärte sie.
»Aber warum?«, stammelte er. »Weshalb?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete Neundorf, »er ist nicht mehr aus dem Koma erwacht.«
Bernhard Söhnle war tot?
Er konnte es nicht glauben. Weshalb? Was hatte er getan?
»War es Krebs?«
»Du meinst wegen Neckarwestheim?«
»Ich denke an den Arzt in Tübingen. Der Mann gilt als absolute Kapazität in dem Bereich. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sich ein führender Chirurg ohne Grund zu einer so brisanten Aussage hinreißen lässt.«
Braig trat einen Schritt auf seine Kollegin zu, schüttelte den Kopf. »Warum gerade Bernhard? Warum er?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete sie, »manchmal verstehe ich die ganze Welt nicht mehr.«
Er ließ sie vor ihrer Tür stehen, lief in sein Büro, setzte sich auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch. Bernhard Söhnle war tot. Vor wenigen Tagen noch gemeinsam mit ihm unterwegs, den Mörder Konrad Böhlers zu ermitteln, dann in der Nacht ins Nichts gefallen und jetzt im Krankenhaus gestorben. Berhard Söhnle, der immer freundliche Kollege. Aus und vorbei. Weil er jahrelang radioaktiven Müll hatte begleiten müssen?
»Weißt du, wie alt er ist?« Neundorf war lautlos in sein Zimmer getreten. Ihr Gesicht war bleich.
»Siebenunddreißig? Achtunddreißig?« Braig schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht.«
Er wusste so vieles nicht.
Bernhard Söhnle – wie lange hatte er mit ihm zusammen gearbeitet? Fünf, sechs, sieben Jahre? Oder noch länger? Er versuchte, darüber nachzudenken, brachte es nicht auf die Reihe.
Gemeinsame beruflicher Erlebnisse fielen ihm ein. Mit Bernhard unterwegs bei den Bauernhöfen in der Nähe des Flughafens, dort, wo Gabriele Krauter und Mirjana Beranek ihre angeblich schwarzen Messen feierten. Mit Bernhard nachts im Park des Favorite-Schlössles in Ludwigsburg, Sekunden bevor ein hysterischer Amokläufer den Kollegen als Geisel genommen und mit dessen eigenem Auto verschleppt hatte. Mit Bernhard in der Liebeslaube Hans Breidles am Esslinger Marktplatz, die Nachbarin und die Schwägerin des Journalisten Auge in Auge einander gegenüber, die Situation, die zur Ermittlung der Täterin geführt hatte. Jahre gemeinsamer Arbeit. Alles vorbei.
»Du hast ihn gemocht?«, fragte Neundorf.
Braig nickte. Ein ruhiger, zurückhaltender Kollege. Keiner, der durch laute Worte auffiel. Keiner, der sich selbst in den Mittelpunkt stellte oder das Rampenlicht liebte. Kein Rambo, kein besessener Aufräumer. Einfach ein Mensch, mit dem man gern zusammen war.
»Und du?«
»Sehr«, antwortete sie ohne Zögern, »Bernhard war mir sehr sympathisch.« Sie war in die Vergangenheitsform übergegangen. Er war tot, nicht mehr da. »Obwohl ich ihn kaum kannte.«
Er nickte, verstand, was sie meinte.
»Du?«
»Nein«, sagte Braig, »es ist seltsam. Aber mir geht es genauso. Trotz all der Jahre.«
Was wusste er schon von dem Kollegen – privat? Er lebte allein, war geschieden, absolut zuverlässig, was seine Dienstauffassung anbetraf, trank ab und zu mal ein Bier – was konnte man noch über ihn berichten? Von Verwandten hatte er ihm einmal erzählt, Landwirten, meinte Braig sich zu erinnern, die sich ihren Lebensunterhalt sauer verdienten, doch in welchem Verhältnis sie zu ihm standen, wo sie wohnten, er wusste es nicht. Söhnles Eltern, seine Mutter, die ehemalige Lebensgefährtin – er kannte niemand von ihnen. Sie hatten Stunden, manchmal bei schwierigen Untersuchungen ganze Tage miteinander verbracht, waren in etlichen Extremsituationen blind aufeinander angewiesen gewesen – und sich doch fremd geblieben, wie ihm erst jetzt bewusst
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