Schwaben-Angst
dreimal von dort angerufen.«
»Angeblich von dort. Diese verdammten Handys: Mit ihnen kann man hervorragend verschleiern, wo man sich befindet! – In Wirklichkeit war sie irgendwo in der Nähe von Stuttgart.«
»Das behaupten Sie. Ich glaube es nicht.«
»Ist es wirklich so schwer, neue Rollen zu bekommen?«, fragte Braig.
»Schwer? Es ist entwürdigend, wie sie in den letzten Jahren behandelt wurde. Nur weil sie die Vierzig überschritten hat. Dabei sieht sie noch jung aus.«
Er schaute auf die Fotos, stimmte ihr zu. Katja Dorn hatte sich, zumindest soweit dies aus den Bildern hervorging, ein überraschend jugendliches Aussehen bewahrt.
»Es liegt nicht auch an ihren schauspielerischen Leistungen? Vielleicht hätte sie einen Berufswechsel ins Auge fassen …«
Susanne Braun unterbrach ihn mitten im Satz. »Soll ich Ihnen die Auszeichnungen zeigen, die Katja noch in den letzten Jahren erhalten hat? Müssen Sie es wirklich Schwarz auf Weiß sehen, bis Sie es endlich begreifen?« Sie wischte sich die Tränen aus dem Gesicht, wurde aggressiv. »Sie sind Beamter«, erklärte sie, »wahrscheinlich erspart Ihnen diese Tatsache allzu intensive Konfrontationen mit der beruflichen Realität der freien Wirtschaft. Anders kann ich mir Ihre Naivität beim besten Willen nicht erklären. Glauben Sie,
mir
geht es besser als Katja? Unser Labor wurde vor zwei Jahren ausgegliedert und von einem anderen Konzern geschluckt. Dreimal dürfen Sie raten, wem zuerst gekündigt wurde.« Sie gab ihm einen Moment Zeit, beantwortete dann ihre Frage selbst. »Allen über fünfzig. Ich konnte nur deshalb bleiben, weil ich einen wesentlich schlechter dotierten Vertrag unterschrieb. Was sollte ich tun? Ich war damals neunundvierzig.«
»Sie arbeiten in einem Labor?«
»Als CTA in der Arzneimittelforschung. Vor einem halben Jahr konnte ich Katja einen Job als Putzfrau bei uns besorgen. Sie nahm ihn an. Besser als gar nichts.«
»Ein chemisches Labor?« Braigs Aufmerksamkeit war neu erwacht.
»Ich erzählte es Ihnen doch gerade«, maulte Susanne Braun.
War das die Antwort auf die Frage, für die er bisher noch keine Erklärung gefunden hatte?
»Ihr Labor verfügt über Materialien wie Kaliumcyanid?«
»Das ist so üblich, ja.«
Braig atmete tief durch, betrachtete sein Gegenüber. Sie hatte die Tragweite ihrer Aussage offensichtlich noch nicht erfasst. Er musste die Kölner Kollegen darum bitten, das Labor und seine Vorräte gründlich zu untersuchen, heute noch.
»Frau Dorn nahm den Job als Putzfrau bereitwillig an?«
Susanne Braun schüttelte den Kopf. »Es war nur eine Notlösung. Katja hatte jeden Lebensmut verloren, litt unter Depressionen. Sie war aus einer viel versprechenden Rolle als Serienheldin ausgestiegen, weil sie das Mobbing des Regisseurs nicht mehr aushielt. Er beschimpfte sie ständig als lahme alte Kuh mit schlaffen Titten. Vor dem ganzen Team. Sie konnte nicht mehr, nahm den Job als Putzfrau aus lauter Verzweiflung.«
Braig überflog die Fotos auf dem Tisch, betrachtete die Stadien der Verwandlung.
»Herbert Bauer war Katjas erste große Rolle im Theater«, hatte ihm Susanne Braun vor wenigen Minuten erklärt: »Zwei Frauen und ein Mann – das Stück wurde des Erfolgs wegen mehrfach wiederholt: Maja Maier will ihrer äußerst attraktiven Schwester Maria damit imponieren, dass sich endlich auch ein Mann für sie selbst interessiert. Deshalb veranlasst sie ihre Freundin Kirsten, sich in den heißblütigen Verehrer Herbert Bauer zu verwandeln, der ihr auf Schritt und Tritt folgt. Katja spielte die Rolle über Jahre hinweg mit großer Begeisterung. Bei jedem ihrer Auftritte verwandelte sie sich mit Haut und Haaren in den Mann, nicht nur das Äußerliche, die Kleider, die Schuhe, die Perücke änderten sich, auch ihr Inneres, ihre Psyche schien zu mutieren, wie bei einer Raupe, die zum Schmetterling wird. Man erkannte sie nicht, an keiner Geste, wenn sie als Herbert Bauer auf die Bühne trat. Und das ist der einzige Herbert Bauer, den ich kenne.«
32. Kapitel
Kurz nach 15 Uhr hatten Katrin Neundorf und Anja Wintterlin das Wochenendhaus Katja Dorns entdeckt. Es stand am Rand von Oppelsbohm, einem kleinen, von bewaldeten Bergen und Obstbaumhügeln umgebenen Dorf, wenige Kilometer von Winnenden entfernt.
Braig hatte Susanne Braun mehrfach nach der Lage des Hauses gefragt, sie vergeblich darum gebeten, den Ort genauer zu lokalisieren.
»Irgendwo in der Nähe von Winnenden. In den Bergen«, war das Einzige, woran
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