Schwaben-Angst
und in großen Schlucken trank.
Neundorf begriff als Erste, was in der Kabine der Baumaschine ablief. »Sie will sich vergiften«, rief sie, stürzte auf den Bagger zu, riss an der Klinke der kleinen Tür, versuchte den Führerstand zu öffnen. Das Schloss war verhakt, gab nicht nach. Sie zerrte die Klinke hin und her, hörte im Inneren das Poltern einer Flasche.
»Ein Stein«, rief sie, »oder irgendein fester Gegenstand.« Sie starrte zu ihren Kollegen, begriff dann, dass sie genauso gut ihre Pistole verwenden konnte, schlug mit der Waffe auf das Glas der Kabine ein, bis es splitterte. Scherben flogen zur Seite, polterten auf das Gehäuse des Baggers, auf den Asphalt. Neundorf klopfte das Glas aus der Fassung, griff dann nach innen, entriegelte das Schloss, riss die Tür des Führerstandes auf.
Das Röcheln und Stöhnen der Frau war so laut, dass alle erschrocken verstummten. Ihr Körper verkrampfte, bäumte sich auf, weißer Schaum quoll aus ihrem Mund. Sie ächzte, rang mit letzter Kraft nach Luft, fiel dann in sich zusammen, Neundorf, die sich aus ihrer Erstarrung löste, in die Arme. Braig sah, wie seine Kollegin den erschlaffenden Leib der Sterbenden auffing, starrte auf die Überreste der Frau, die sie tagelang in Atem gehalten hatte. Katja Dorns Körper zuckte ein letztes Mal, dann hatte es ein Ende.
39. Kapitel
Sehr geehrter Herr Hesse
,
Ihre Entscheidung, in Ihren Kaufhäusern nur noch junge Frauen zu beschäftigen, um – wie Sie argumentieren – den Shops schon vom Erscheinungsbild der Verkäuferinnen her ein modernes und lebensbejahendes Image zu verleihen und dadurch den Verkauf zu fördern, habe ich mit großem Befremden zur Kenntnis genommen
.
Was, bitte, ist an Menschen unter dreißig Jahren lebensbejahender als an älteren?
Glauben Sie wirklich, dass junge Verkäuferinnen über mehr Praxis und fachlichen Überblick verfügen, ihre Kunden umfassend zu beraten, als Über-Dreißigjährige? Sind Menschen, die am Anfang ihres Lebens stehen, besser dazu geeignet, anderen Tipps zu geben, als Menschen, die bereits verschiedene Lebensphasen hinter sich gebracht und bewältigt haben?
Ich gebe zu, mit Ihrer Entscheidung liegen Sie voll im Trend unserer Zeit: Wohin ich auch blicke, sehe ich Menschen mit jungen und gesunden Körpern in der Öffentlichkeit verherrlicht, wie einstmals die Heroen heidnischer Kulte. Männer und vor allem Frauen werden in unserer Gesellschaft in zunehmendem Maß danach beurteilt, ob sie jugendliches Aussehen zur Schau tragen oder nicht; Jungen wird im Fernsehen, den Medien, der Werbung gehuldigt, als seien sie Geschöpfe einer besonderen Klasse, mehr Wert auf jeden Fall als die Älteren – aber glauben Sie allen Ernstes, es sei der Weisheit letzter Schrei, Menschen allein nach ihrem Aussehen zu bewerten? Glauben Sie wirklich, unsere Gesellschaft, wir alle, könnten auf die Lebenserfahrung, den Überblick, die Routine der Älteren verzichten, um die immer komplexeren Probleme der Zukunft zu bewältigen?
In fast allen Kulturen dieses Erdballs war es bisher üblich, Erfahrung als ein wertvolles Gut zu erachten, den Älteren daher Achtung und Aufmerksamkeit entgegenzubringen. Haben Sie es in den vergangenen Jahrzehnten nicht selbst gelernt, dass erst Praxis zu dem Durchblick verhilft, der uns den Sinn, die Freuden, aber auch die Schattenseiten unserer Existenz in einer neuen, bisher nicht erlebten Intensität verstehen, beurteilen und nutzen lässt?
Vielleicht wollen Sie die Über-Dreißigjährigen aber gerade deshalb abhalftern, zum Müll werfen, weil diese aufgrund ihres inzwischen angesammelten Wissens nicht mehr auf alle dumm-naiven Verlockungen hereinfallen, den hohlen Sprüchen moderner Werbung – auch Ihrer Modeshops? – nicht mehr so schnell Glauben schenken wie die unbedarft-unerfahrenen Jungen, von denen viele als wohlerzogene Sklaven der Konsumgesellschaft ihr Glück im Kaufrausch zu finden hoffen? Ist es in Wirklichkeit also clevere Geschäftemacherei, die Sie zur Verherrlichung und Anbiederung an die Jungen und Gesunden treibt?
Wie dem auch sei: Ich bin nicht bereit zu billigen, dass Sie mit Ihrer Aktion ungeniert dazu beitragen, Menschen wie mich zu einer Art minderwertiger Existenz herabzustufen und mich noch mehr, als dies in unserer Gesellschaft ohnehin üblich ist, als lebensunwert zu diskriminieren. Wenn Sie glauben, dass ich und meine Jahrgänge Ihre Lebensfreude und Ihr Wohlbefinden allein durch unser Dasein beeinträchtigen, werden Sie auf meine
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