Schwaben-Angst
mitten im Ort, vielleicht 200 Meter von den Böhlers entfernt. Anna Häfele, ich habe mir ihren Namen notiert. Sie fegte gerade die Straße. Mord und Totschlag, meinte sie, das Einzige, was ihr zu den Böhlers einfalle. Jedenfalls in der letzten Zeit. Für sie war es keine Frage, wo wir den Täter, die Täterin, zu suchen hätten.«
»Das heißt, wir müssen uns die Böhler noch mal vornehmen, ohne Rücksicht auf den Tod ihres Mannes.«
Söhnle ging nicht auf seine Antwort ein. »Ein anderer Nachbar, seinen Namen wollte er allerdings nicht verraten, sprach von vielen Auseinandersetzungen, die es in letzter Zeit zwischen den Böhlers gegeben habe.« Er hatte Mühe, sich aufrecht zu halten, stützte sich an Braigs Schreibtisch ab.
»Vielen Dank für die Information. Du gehst jetzt nach Hause, oder?«
Söhnle nickte, versuchte ein krampfhaftes Lächeln. »Ich bin im Moment nicht ganz auf dem Damm.«
Braig kannte die gesundheitlichen Probleme des Kollegen, wusste, dass Söhnle sich nicht darauf ansprechen lassen wollte.
War er, Braig, wenn nicht als Vorgesetzter und Kollege, so doch schon aus mitmenschlicher Verantwortung heraus, nicht dazu verpflichtet, sich mehr um Söhnle zu kümmern? Er wusste, was der Mann in den letzten Jahren privat wie beruflich mitgemacht hatte. Die kinderlose Ehe des Kriminalmeisters war in die Brüche gegangen, nur wenige Monate, bevor ein bewaffneter Amokläufer Söhnle bei einer nächtlichen Ermittlung in Ludwigsburg als Geisel gekidnappt und mehrere Stunden in seiner Gewalt gehalten hatte. Erst am nächsten Mittag war es ihnen gelungen, den Kollegen am Fuß der Schwäbischen Alb aus dem Kofferraum eines Autos zu befreien.
Hinzu kam eine Krebsdiagnose. Vor mehr als einem Jahr hatten die Ärzte der Tübinger Universitätsklinik bei ihm Krebs diagnostiziert. Die Aussage von einem der behandelnden Mediziner, die Erkrankung stehe höchst wahrscheinlich in unmittelbarem Zusammenhang mit Söhnles jahrelanger Dienstverpflichtung zur Begleitung unzähliger Castor-Transporte zur radioaktiven Entsorgung des Atomkraftwerkes Neckarwestheim, hatte sich trotz aller Sanktionen und Vertuschungsversuche von Seiten des zuständigen Ministeriums im gesamten Amt verbreitet. Söhnle lebte allein, soweit Braig wusste. War der Mann überfordert, sich um sein eigenes Wohlergehen zu kümmern?
Für Söhnle selbst war sein Gesundheitszustand absolutes Tabu. Jede Frage nach seinem Befinden, jede noch so freundlich geäußerte Empfehlung, er solle sich schonen, wurde von ihm übergangen oder schroff zurückgewiesen. Auch wenn seine physischen Probleme alle paar Wochen, manchmal gar im Abstand von wenigen Tagen offenkundiger wurden, wagte es niemand, ihn darauf anzusprechen.
Braig sah, wie der Kriminalmeister mit unsicherem Gang aus seinem Büro taumelte. Er hatte Mühe, sich zurückzuhalten.
Steffen Braig schaute auf seinen Monitor, sah den Text zum Einbruch in der Apotheke. Er musste sich auf Marion Böhler konzentrieren, so schwer es ihm im Moment auch fiel. Es war dringend notwendig, nochmals mit der Frau zu reden, sie auf die Lüge, mit der sie ihm ein harmonisches Eheleben vorgegaukelt hatte, sowie auf den Einbruch anzusprechen, ihr Alibi gestern Mittag und ihre Schuhgröße zu überprüfen – nicht morgen oder in den nächsten Tagen, sondern heute noch, so schnell wie möglich, ungeachtet ihrer persönlichen Situation.
Braig griff zum Telefon, läutete bei Marion Böhler an. Es dauerte einige Sekunden, bis sie sich mit unüberhörbar verschlafener Stimme meldete.
»Hier ist Braig vom Landeskriminalamt. Frau Böhler, kann ich kurz bei Ihnen vorbeikommen?«
»Heute? Wozu denn?«
»Ich habe ein paar dringende Fragen.«
»Dann stellen Sie sie am Telefon.«
»Das geht nicht«, wehrte er ab. »Es ist zu kompliziert.« Ich muss sehen, wie sie reagiert, sagte er zu sich selbst, ihre Mimik, ihre Gebärden, die Körpersprache, alles spielt eine Rolle.
»Morgen. Kommen Sie morgen vorbei, wenn es unbedingt sein muss.«
»Das ist zu spät. Ich komme heute Nachmittag. Wann geht es bei Ihnen?« Er wusste, wie unverschämt er war, bestand dennoch auf seinem Vorhaben. Wenn Marion Böhler in den plötzlichen Tod ihres Mannes in irgendeiner Weise involviert war, hatte sie keine Rücksicht verdient. Wenn nicht …
Braig wollte es nicht glauben, hatte Schwierigkeiten, sich die Frau als leidgeprüfte Witwe vorzustellen.
»Also gut, Sie geben doch keine Ruhe. Aber nicht vor vier.« Sie hatte den Hörer aufgelegt,
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