Schwaben-Angst
Jenseits befördern, was glauben Sie denn?« Marion Böhler war aufgesprungen, starrte Braig mit vor Wut weit aufgerissenen Augen an. Sie hatte Mühe, sich zurückzuhalten, kämpfte mit ihrer Erregung. »Oder reicht Ihnen das nicht? Was wollen Sie noch hören? Die böse Apothekerin mit ihrem vielen Gift – wer wird ihr als Nächstes zum Opfer fallen?«
9. Kapitel
Zehn Minuten vor neun stand Wolfgang Reck vor dem Eingangsportal der evangelischen Juliana-Kirche in Großaspach. Er hatte sich verspätet, hatte sich beim Frühstück zu ausführlich mit seiner Mutter über das geistliche Konzert vom Vorabend unterhalten, zu dem er von Freunden in die Winnender Schlosskirche eingeladen worden war.
Wolfgang Reck war seit frühester Kindheit begeisterter Musiker. Alles, was mit Instrumenten, Chören, klassischen Werken zu tun hatte, reizte sein Interesse. Mit sechs Jahren, zeitgleich mit seinem Eintritt in die Grundschule, hatte er Klavierunterricht erhalten, zuerst bei einer jüngeren, später dann bei einer älteren, erfahreneren Lehrerin. Kurz nach dem Beginn seiner Gymnasialzeit war er auf eigenen Wunsch zur Kirchenmusik gewechselt, hatte in der Backnanger Stiftskirche das Orgelspielen gelernt.
Der Mangel an ausgebildeten Organisten war ebenso groß wie Wolfgang Recks Begeisterung für die Königin der Instrumente: Ersten Monaten mit Ferien- und Notfalleinsätzen an den Orgeln verschiedener Kirchen in der Umgebung seines Wohnortes Großaspach folgten immer häufiger Verpflichtungen zur musikalischen Begleitung von Gottesdiensten, Hochzeiten oder Beerdigungen im gesamten Umkreis. Reck erspielte sich dabei im Lauf der Zeit einen solch guten Ruf, dass ihm schließlich von seiner Heimatgemeinde eine halbe, zu 14-tägigen Diensten verpflichtende Organistenstelle angeboten worden war, die er vor mehr als drei Jahren, damals noch als Oberstufenschüler eines Backnanger Gymnasiums, angetreten hatte.
Heute, im zweiten Monat seiner neuen Tätigkeit als Zivildienstleistender, übte Wolfgang Reck sein sonntägliches Engagement mit ungebrochenem jugendlichen Elan und nicht nachlassender Begeisterung, zur Freude vieler vor allem älterer Gottesdienstbesucher, aus. Punkt halb neun saß er an Dienst-Sonntagen in der Kirche, übte eineinhalb Stunden die vom Pfarrer ausgewählten Lieder und Kantaten, um sie anschließend der Gemeinde zu präsentieren. Das kleine Gotteshaus war fast immer gut besucht; schon eine halbe Stunde vor Beginn füllten sich die ersten Reihen mit andächtig den Klängen der Orgel lauschenden Zuhörern.
Wolfgang Reck griff in seine Tasche, zog den Schlüssel heraus, steckte ihn ins Schloss des Haupteingangs. Die Melodien des abendlichen Konzerts lagen ihm noch im Ohr. Leise vor sich hin summend drehte er den Schlüssel im Schloss, spürte aber, dass die Tür gar nicht verschlossen war.
Überrascht drückte er die Klinke nieder. Das schwere Portal gab nach, schwang mit dem gewohnten Quietschen nach außen. Neugierig starrte der junge Organist in das Gotteshaus.
Dass am frühen Sonntagmorgen jemand vor ihm in der Kirche war, entsprach nicht der Regel. Zwei- oder dreimal in den Jahren, in denen er hier praktizierte, hatte irgendjemand vergessen, am Samstagabend abzuschließen, vielleicht ein Mitglied der Pfarrfamilie, die Messnerin oder einer der gelegentlichen Besucher, denen erlaubt worden war, in freien Stunden auf der Orgel zu spielen, er wusste nicht, wer genau. Der Kirche würde das Versäumnis nicht geschadet haben, niemand außer ihm war auf das unverschlossene Gotteshaus aufmerksam geworden, dachte er.
Wolfgang Recks Augen benötigten einige Sekunden, um sich an das gedämpfte Licht des Innenraums zu gewöhnen, dann nahm er die gewohnten Umrisse wahr: die dunklen, in Reih und Glied beiderseits des Kirchenschiffs angeordneten Bänke; die von rechteckigen Holzeinfassungen begrenzte Empore auf der rechten Seite; den geradlinigen Gang, der vom Eingang direkt zum Altar und der dahinter untergebrachten Orgel führte.
Der junge Kirchenmusiker ließ seine Augen aufmerksam über die gesamte Einrichtung schweifen, rief vorsichtshalber ein kräftiges: »Ist jemand da?«, trat dann ins Innere, als außer dem Echo der eigenen Worte keine Antwort erfolgte. Er zog die Tür hinter sich zu, folgte dem breiten Gang mitten durch die Kirche, sah, dass offensichtlich alles in Ordnung war.
Die Fliesen glänzten frisch poliert, die Bänke rochen nach harzigem Wachs, kein Staubkorn tanzte in der Luft. Die Messnerin hatte
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