Schwaben-Angst
gestern vor ihrem Urlaubsbeginn wieder vorbildliche Arbeit geleistet. Wolfgang Reck wusste, welchen Wert die Frau ihren Bemühungen um ein allseits sauberes Gotteshaus beimaß, versuchte, möglichst leichtfüßig aufzutreten, um ja keinen Schmutz zu hinterlassen.
Die in verkrümmter Haltung auf den Boden seitlich neben die Kanzel gekauerte Gestalt nahm er erst wahr, als er den vorderen Teil der Kirche erreicht hatte. Er blickte zur Seite, sah eine grässlich verzerrte Grimasse, die zu ihm heraufzustarren schien, glaubte im ersten Moment, der Mann sei gerade dabei aufzuspringen, um sich auf ihn zu werfen.
Erschrocken stolperte er einen Schritt zurück, ließ die schmale Tasche mit den Notenblättern fallen, wartete auf die Attacke des anderen. Seine Glieder schienen versteinert, die Muskeln gelähmt. Die Ledermappe schlug mit einem lauten Knall auf dem Boden auf, ließ ein Bündel Blätter über die Fliesen gleiten, direkt auf die neben der Kanzel kauernde Gestalt zu.
Als sich das Echo des Aufpralls in allen Ecken des kleinen Gotteshauses brach, erwachte Wolfgang Reck aus seiner Trance. Im Bruchteil einer Sekunde war ihm klar, dass von der Person vor ihm keine Gefahr mehr ausging, nicht jetzt und auch in Zukunft nicht, gleichgültig, wer immer der Mann war. Seine Erstarrung schwand, die Lähmung ließ nach. Schneller als jemals zuvor rannte der junge Organist durch das Gotteshaus, drückte die Klinke nieder und spurtete schreiend ins Freie. Er kümmerte sich nicht um seine vor der Kanzel verstreuten Noten, dachte nicht länger an die unablässigen Bemühungen der Messnerin, die Kirche sauber zu halten.
10. Kapitel
Steffen Braigs Handy läutete beim Frühstück. Er saß mit Ann-Katrin und deren Mutter am reich gedeckten Tisch, ahnte sofort, dass der Anruf wieder keine angenehmen Neuigkeiten bringen würde. Wochenendbereitschaft bedeutete allzu oft intensive Beschäftigung mit in mehrere Einzelteile zerfetzten Jugendlichen auf irgendwelchen Straßen, vermissten Kindern oder Ehepartnern, blutigen Auseinandersetzungen im Milieu. Tage ohne Zwischenfälle waren äußerst selten.
Ein Brötchen mit Olivenpaste kauend nahm Braig das Gespräch an.
»Weißhaar hier, es tut mir Leid, wenn ich störe.«
»Was liegt an?« Er sprach mit vollem Mund, kaute weiter. Der Kollege war ihm gut bekannt, er arbeitete seit mehreren Jahren beim LKA.
»Ein Toter in einer Kirche.«
»In einer Kirche? Wo?«
»Großaspach. Der Organist. Und um es dir gleich zu sagen: Das allerschlimmste …« Weißhaar wurde unterbrochen, stockte.
»Ja? Was ist das Allerschlimmste?« Braig sah die Falten auf Ann-Katrins Stirn, die ärgerliche Miene, mit der sie sein Gespräch verfolgte.
»Es scheint sich bestätigt zu haben«, fuhr der Kollege fort, »gerade traf eine neue E-Mail ein. Gift.«
Braig schluckte vor Schreck die halb zerkauten Brötchenteile. »Gift? Doch nicht etwa …«
»Blausäure.« Weißhaar war ihm zuvorgekommen. »Soeben vom untersuchenden Arzt bestätigt.«
Braig sprang von seinem Stuhl auf, fuhr sich durch die Haare. »Kein Wort an die Presse. Hörst du, kein Wort.«
»Ich werde versuchen, es zu verhindern. Kümmerst du dich um die Sache?«
»Das geht wohl nicht anders. Hast du die Kollegen verständigt?«
»Ich bin dabei. Die Techniker sind bereits unterwegs.«
»Gut. Ich mache mich ebenfalls auf den Weg.« Er drückte eine Taste und steckte das Handy weg.
Ann-Katrins Augen glühten vor Wut. »Manchmal kotzt es mich richtig an«, zischte sie.
»Was meinst du?«
»Was wohl? Können wir nicht mal den Sonntag für uns haben?«
»Tut mir Leid. Mir wäre es auch lieber …«
»Das weiß ich. Nur hilft uns das nichts. Dieser ganze Mist! Und was erwartet dich jetzt wieder?«
»Blausäure«, sagte er kurz, schwieg dann für einen Moment. Natürlich hatte sie Recht. Gestern war er am späten Nachmittag bei ihr eingetroffen, schon bei der Ankunft müde und abgearbeitet, reif für eine lange Nacht mit nichts als tiefem Schlaf, unfähig, sich auf sie und ihre Zweisamkeit zu konzentrieren. Aus dem abwechslungsreichen Abend, auf den sie sich seit Tagen gefreut hatte, war nichts geworden, kein Kino, kein Theater, nicht einmal der Besuch eines Lokals oder eines Cafés. Schlaff und abgespannt hatten sie sich quälende drei Stunden mit Ann-Katrins Mutter unterhalten, mit ihr gegessen und dann seinem Schlafbedürfnis stattgegeben. Zwar war es um ihre Gesundheit nicht zum Besten bestellt gewesen, hatten Schmerzen sie auch gestern
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