Schwaben-Angst
wieder den ganzen Tag über hartnäckig attackiert, doch war die Hoffnung auf einen gemeinsamen Abend immer noch das wirkungsvollste Mittel, die Probleme wenigstens zeitweise vergessen zu lassen.
»Deine Gedanken kreisen unentwegt um das grässliche Verbrechen«, hatte sie ihm mehrfach vorgeworfen und ihn jedes Mal dabei ertappt, wie seine Gewissheit, Marion Böhler sei die Mörderin ihres Mannes bzw. habe auf jeden Fall damit zu tun, Stunde um Stunde gewachsen war.
»Berufskrankheit«, war seine Antwort, in dem Bewusstsein von sich gegeben, mit dieser Feststellung voll und ganz die Wahrheit zu sagen.
»Dieselbe Sache wie am Freitag?«, fragte Ann-Katrin.
Braig trank seine Tasse leer, aß den Rest des Brötchens. »Ich fürchte, ja.«
»Tut mir Leid für dich.«
Er nickte, wusste, wie richtig sie mit ihrer unausgesprochenen Befürchtung lag. Die verzerrten Gesichtszüge der Leiche Konrad Böhlers waren ihm noch deutlich in Erinnerung. Wahrscheinlich durfte er sich in den nächsten Stunden mit einer ähnlich entstellten Physiognomie beschäftigen, wie gut aussehend auch immer der Tote zu seinen Lebzeiten gewesen sein mochte.
Er ließ sich ein belegtes Brötchen einpacken, dazu eine halbe Thermoskanne Kaffee, verabschiedete sich.
In Gedanken versunken machte er sich auf den Weg. Noch ein mit Blausäure vergiftetes Opfer? Derselbe Täter wie in Rotenberg? Ermordet in einer Kirche? Sonntagmorgens – kurz vor dem Gottesdienst? Er wusste nicht, wie er Weißhaars Worte interpretieren sollte, überlegte, ob er ihn überhaupt richtig verstanden hatte, war froh, dass er den Ort bald erreichte.
Großaspach mit seinen 3000 Einwohnern lag malerisch vor dem Halbrund der von Weinbergen gezeichneten Südwestflanke des Schwäbischen Waldes. Die Kirche, offenkundig das Wahrzeichen der Ortschaft, war schon von weitem zu sehen. Auf einer leichten Erhöhung am Ortsrand gelegen, fielen Braig sofort ihr wuchtiger Chorturm und der malerische Fachwerkgiebel des nahen Pfarrhauses ins Auge.
Eigentlich ein bemerkenswerter, fast schon romantisch zu nennender Anblick, überlegte er, spürte aber, dass diese Empfindung nicht im Geringsten zu seiner gegenwärtigen Gemütslage passte. Die kleine, dennoch sehr massiv wirkende Kirche, das filigran gezeichnete Fachwerk des Pfarrgebäudes, überhaupt die ganze Lage des Ortes vor der Kulisse der wie ein Halbmond die Häuser umarmenden Weinberge ließen das Herz jedes Tourismusmanagers höher schlagen. Braigs Gedanken dagegen hatten jeden Halt, jede Orientierung verloren.
Schon wieder Blausäure – derselbe Täter, dieselbe Täterin also? Marion Böhler? Oder nur ein Nachahmer, eine jener ruchlosen Gestalten, die im Windschatten eines anderen Verbrechers ihren Mordgelüsten frönten? Die dritte Möglichkeit: Zufall. Zwei völlig unabhängig voneinander ans Werk gegangene Täter.
Braig wollte es nicht glauben, nicht aus seiner skeptischen Haltung, seinem Gefühl, mit dem er sich an das neue Verbrechen herantastete, auch nicht aus seiner langjährigen Erfahrung als Kriminalbeamter heraus. Zufälle in dieser zeitlichen und geografischen Nähe waren zu selten, als dass man sie ernsthaft als solche ins Auge fassen konnte. Morde mit Blausäure, sofern es sich bei dem neuen Fall, zu dem er heute gerufen wurde, wirklich darum handelte, hatten immer noch das Siegel exklusiver Ausnahmedelikte, weshalb jede unmittelbare Häufung dem Zufallsprinzip widersprach. Nein, Braig war sich darüber vollkommen im Klaren, wenn es sich hier tatsächlich wieder um ein Verbrechen mit Zyanid handelte, musste die Schlussfolgerung
Tat eines Serienmörders
lauten. Und was das in Bezug auf die Arbeit, den Stress, die Hektik der nächsten Wochen, vielleicht gar Monate und die Hetze der Boulevardpresse bedeutete, wusste er aus Erfahrung.
Er bog in die Einfahrt zum Ort ab, sah auf den ersten Blick die für einen Sonntagmorgen außergewöhnliche Situation. Eine fast unübersehbare Menge teilweise auffallend vornehm gekleideter Menschen bevölkerte die Straßen, Wege und Grünflächen rund um die Kirche. Sie standen in Gruppen zusammen, waren in eifrige Gespräche vertieft. Eine knappe Handvoll uniformierter Beamter war damit beschäftigt, den direkten Eingangsbereich des Gotteshauses von Unbefugten freizuhalten.
Braig stellte seinen Wagen auf dem einzigen noch freien Platz am Rand des Kirchengeländes ab, schob sich durch die laut diskutierenden Passanten auf den Eingang zu. Aufgeregte Gesichter, neugierige Blicke,
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