Schwaben-Angst
Frauen und Männer in den Aufzug, starrten schweigend auf den Boden. Als sie an der Cafeteria vorbei kamen, zog Braig seine Kollegin mit sich. »Tut mir Leid, aber mir knurrt der Magen.«
Sie holten sich zwei Tabletts, zogen belegte Brötchen und gemischte Salatteller aus den Vitrinen, schenkten sich Kaffee ein, bezahlten. Nur wenige Tische waren belegt. Was nicht gerade für die Verpflegung sprach.
Braig setzte sich ans Fenster, schaute in den Hof.
»Du kennst seine Familie?«, fragte Neundorf.
Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß nur, dass seine Mutter noch lebt. Wo – keine Ahnung. Ich meine, er erwähnte irgendwann einmal Ulm.«
»Zu seiner ehemaligen Frau hat er keine Verbindung mehr?«
»Ich glaube nicht.«
»Ich gebe Weißhaar Bescheid. Er soll sich darum kümmern.« Per Handy gab sie die Information durch. Der Kollege versprach, in Söhnles Personaldaten nach Angehörigen zu fahnden und diese zu benachrichtigen.
»Ist das jetzt die Folge der Atomtransporte?« Neundorf kaute lustlos auf ihrem Brötchen, stocherte unentschlossen im Salat.
Braig wusste keine Antwort.
»Hoffentlich hat er eine Chance.«
Ein über und über bandagierter Mann humpelte in die Cafeteria, holte sich ein Bier, versuchte, an einem der Tische Platz zu nehmen. Der Stuhl, auf dem er sich niederlassen wollte, kippte, schlug laut auf dem Boden auf. Braig eilte dem Mann zu Hilfe, hob den Stuhl wieder auf, hielt ihn dann fest, bis der ungelenke Kranke endlich saß. Der Mann bedankte sich, seufzte laut.
»Seit dem Unfall ist es nur noch das halbe Leben.«
»Auto?«
Er nickte, trank von seinem Bier.
»Gute Besserung.« Braig ging zu seinem Platz zurück.
»Wie lange kennst du Bernhard?«, fragte Neundorf.
Braig aß von dem Salat. »Sieben, acht Jahre vielleicht. Ich weiß nicht mehr genau, wann ich zum ersten Mal mit ihm zu tun hatte.« Die Jahre flogen nur noch so dahin. Je älter er wurde, desto schneller schien die Zeit zu vergehen. Das Leben war nur noch ein einziges Jagen und Hasten.
Ob Söhnle es ähnlich empfand? Jetzt lag er dort oben an mehreren Schläuchen, von Maschinen und ächzenden Pumpen am Leben gehalten.
Braig stocherte im Salat, darauf konzentriert, verschiedene Blätter auf die Gabel zu spießen.
Söhnles gegenwärtige Umgebung. War das der Sinn des Ganzen? Lernen, einen Beruf ergreifen, sich Tag für Tag abrackern, um dann irgendwann auf der Intensivstation zu landen? Oder gleich auf dem Friedhof?
»Wie geht es Ann-Katrin?«, versuchte Neundorf abzulenken.
Braig schluckte die Blätter, seufzte laut. »Mehr Schatten als Licht.« Mehrfach war er hier gewesen, hatte sie im Klinikum besucht.
»Sie hat immer noch Schmerzen?«
»Fast jeden Tag. Irgendwie trostlos. Kein Arzt kann ihr erklären, woran es wirklich liegt.«
»Und jetzt bist du wieder das ganze Wochenende beschäftigt.«
»Ich fürchte, dass sich das nicht unbedingt zu ihrem Vorteil auswirkt. Wir hatten uns auf die freien Tage gefreut.«
»Richte ihr viele Grüße aus, wenn du sie siehst. Ich wünsche ihr gute Besserung.«
Er nickte, aß den Rest seines Salates.
Eine Gruppe junger Leute betrat die Cafeteria, machte sich lauthals an der Theke zu schaffen. Einer der jungen Männer trug dicke Bandagen am rechten Knie.
Neundorf lehnte sich in ihrem Stuhl zurück, verschränkte die Arme hinter ihrem Rücken. »Jetzt könnte ich noch einen Kaffee vertragen. Sonst schlafe ich ein, bevor wir mit Hemmers Freundin reden.«
Braig stimmte ihr zu, hoffte, dass ihm das anregende Getränk helfen würde, die bohrenden Schmerzen zu überwinden. Er brauchte einen klaren Kopf, wenn der Besuch bei der Frau einen Sinn haben sollte.
14. Kapitel
Das Haus, in dem Bernhard Hemmer zuletzt gewohnt hatte, lag unweit der Auffahrt zum Hohenasperg. Es war in postmodernem Baustil errichtet, fiel seines Aussehens wegen schon von weitem auf. Silbergraue Metallträger ragten vom Boden senkrecht in die Höhe, von grellgrünen Seitenstreben flankiert. Als Dach hatte der Architekt dem an beiden Enden spitzwinklig auslaufenden Gebäude eine große, auf den Bauch gelegte Wanne, ebenfalls aus silbergrauem Metall, aufgepfropft – einem gekippten, kopfüber im Wasser treibenden Schiffsrumpf gleich.
Braig starrte auf das Papier mit der Adresse, verglich die Hausnummer. »So also wohnen schwäbische Fernsehproduzenten«, spottete er.
Sie gingen auf die Haustür zu, sahen über sich die mächtigen Mauern des Gefängnisses auf dem Hohenasperg. Der weithin sichtbare Hügel gilt im
Weitere Kostenlose Bücher