Schwaben-Angst
vor zwei Wochen, am frühen Sonntagmorgen. Frau Berg war in derselben Nacht im hiesigen Klinikum an einer Überdosis Schlaftabletten verstorben, nachdem sie selbst noch am späten Samstagabend per Notruf um Hilfe nachgesucht hatte. Zwei Kollegen von der Streife waren in ihre Wohnung eingedrungen, hatten sie aber nur noch ohnmächtig vorgefunden. Sie lag im Wohnzimmer, auf dem Boden. Auf Anweisung des Notarztes wurde sie sofort ins Klinikum gebracht. Weder der Pathologe noch ich konnten irgendwelche Anzeichen einer Fremdeinwirkung feststellen. Als ich am Morgen ihre Wohnung untersuchte, waren die Räume alle in tadellosem Zustand. Im Wohnzimmer fand ich neben der leeren Tablettenschachtel einen kurzen Abschiedsbrief. In ihrer Handschrift, wie ich selbst durch einen Vergleich feststellte.«
»Ein Abschiedsbrief?«, fragte Braig. »Wissen Sie zufällig noch den Inhalt, sinngemäß etwa?«
»Allerdings«, antwortete Bursac, »das fällt mir nicht schwer. Er bestand nur aus zwei Sätzen. ›Ich kann nicht mehr. Es tut mir Leid. Bea‹.«
»Sonst nichts?«
»Nur noch die Überschrift. ›Liebe Mutter, liebe‹«, Bursac zögerte, überlegte einen Moment, »der Vorname einer Frau, Katja, glaube ich, ja, jetzt weiß ich es wieder genau, Katja. Eine Freundin, wie mir die Mutter der Toten bestätigte.«
»Und die Wohnung war in tadellosem Zustand, sagen Sie?«
»Aufgeräumt bis ins letzte Eck, das fiel mir auf. Sie wollte wohl einen guten Eindruck hinterlassen, dachte ich noch.«
Braig bedankte sich bei dem Kollegen, ließ sich dessen Dienstnummer geben, falls er seine Hilfe noch einmal in Anspruch nehmen wollte.
Neundorf kramte in einem anderen Papierstapel, ließ sich von Braig den Inhalt des Gesprächs wiedergeben.
»Eindeutiger Selbstmord«, schloss er seinen Bericht, »ich denke, das ist geklärt.«
»Dann war der Kerl heute Mittag wohl tatsächlich ein Einbrecher«, meinte Neundorf, »nach dem Durcheinander hier zu urteilen, durchkämmte er die Wohnung nach wertvollen Gegenständen.«
»Und wie kommt der Kuli in die Kirche? Frau Berg ist seit über vierzehn Tagen tot. Sie kann die Morde nicht begangen haben.«
»Wahrscheinlich hat der Kuli überhaupt nichts mit den Verbrechen zu tun«, seufzte Neundorf. »Und wir jagen einer falschen Spur nach und vergeuden nutzlos unsere Zeit.« Sie faltete mehrere Papierbogen auseinander, hatte plötzlich ein Notenheft in der Hand.
Braig steckte gerade sein Handy weg, als er Neundorfs Aufschrei hörte. Die Kommissarin richtete sich auf, streckte ihm das breitformatige Buch entgegen.
Johann Sebastian Bach: Toccata und Fuge in d-moll BWV 565
.
Er begriff sofort, weshalb sie so aufgeregt war, starrte elektrisiert auf ihre Entdeckung. »Noten zum Orgelspielen?«, fragte er.
Sie zuckte mit der Schulter, blätterte das Heft auf. Die zweite Seite war leer, die dritte präsentierte erneut den Titel, das Erscheinungsjahr, den Verlag. Darunter, im rechten Eck, der Name einer Frau:
Maria Würth
, in handgeschriebenen Druckbuchstaben, dazu, an der Vorwahl zu erkennen, zwei Stuttgarter Telefonnummern, eine wie der Name in schwarzer, leicht verblichener Tinte, die andere in kräftigem Blau. Unter den blauen Ziffern ein weiterer weiblicher Vorname:
Maja
, in derselben kräftigen Farbe wie die letzte Nummer.
»Ich dachte schon: Hemmer«, sagte Braig, wischte sich Schweiß von der Stirn. »Es wäre zu schön gewesen.«
Neundorf nickte. »Ich rufe trotzdem mal an.« Sie legte das Notenheft ab, wählte die erste Nummer.
Eine Männerstimme meldete sich. »Würth.«
»Neundorf hier. Kann ich Frau Maria Würth sprechen?«
»Maria?« Der Mann am anderen Ende zögerte. »Maria war meine Tochter. Sie lebt nicht mehr.« Er machte eine kurze Pause, fragte dann. »Wer sind Sie? Was wollen Sie von ihr?«
»Oh, das tut mir Leid. Mein Name ist Neundorf. Ich bin Kommissarin beim Landeskriminalamt.«
»Polizei? Was haben wir mit der Polizei zu tun?«
»Wahrscheinlich nichts.« Sie versuchte, den Mann zu beruhigen. »Es geht um eine völlig harmlose Untersuchung. Darf ich fragen, wann Ihre Tochter gestorben ist?«
»Vor zwei Jahren. Ein Autounfall.«
»Sie war noch nicht sehr alt?«
»Achtundzwanzig.« Die Stimme des Mannes stockte. Er hatte den Tod seiner Tochter offensichtlich noch nicht überwunden. »Sie wollten heiraten, zwei Monate später.« Er verstummte, schluchzte leise.
Neundorf wartete ein paar Sekunden, fragte dann weiter. »Maria spielte ein Instrument?«
»Orgel«, antwortete
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