Schwaben-Filz
die Zeit, die bis auf die Sekunde genau notwendig war, um in zügigem Tempo das Waiblinger Bahnhofsgelände zu durchqueren und ins Staufer-Schulzentrum zu gelangen – hatte sie ihn endlich aus der Wohnung bugsiert. In höchster Eile hatte sie sich dann selbst hergerichtet, um rechtzeitig ins Amt zu kommen.
»Was ist mit der Frau?«, gähnte sie in den Hörer.
»Es geht um die Tote«, erklärte der Beamte am anderen Ende der Leitung. »Das Bild in den Zeitungen. Sie scheint sie zu kennen.«
Die Nachricht wirkte aufmunternder als das Koffein der dunklen Brühe. Blitzschnell war Neundorfs Neugier geweckt. »Ah, das ist ja prima. Dann stellen Sie sie bitte durch.«
Dr. Margaretha Welser arbeitete als Ärztin im Stuttgarter Westen. »Wir betreiben die Praxis gemeinsam«, erklärte sie, nachdem sie sich vorgestellt hatte. »Meike und ich.«
»Meike?«
»Meike Kleemann.« Die Nervosität in ihrer Stimme war nicht zu überhören.
»Sie vermissen Ihre Kollegin?«
»Ja. Wir haben gestern schon auf sie gewartet. Vergeblich. Wir haben mehrfach bei ihr angerufen, da kam aber keine Reaktion. Das Wartezimmer war den ganzen Tag voll. Ich habe versucht, ihre Patienten mit zu übernehmen und war dann am Abend völlig fertig. Deswegen kam ich auch nicht mehr dazu, bei ihr vorbeizuschauen, obwohl ich das tun wollte. Und jetzt, heute Morgen, zeigt mir Christina, eine unserer Mitarbeiterinnen, dieses Foto in der Zeitung. Wir sind wahnsinnig erschrocken, das wird doch nicht Meike sein?«
»Die Frau auf dem Foto sieht ihr ähnlich?«
»Allerdings, ja. Natürlich irgendwie verzerrt, aber das ist wohl kein Kriterium. Die Person in der Zeitung ist ja tot, nicht wahr?«
»Die ist tot«, bestätigte die Kommissarin. »Sie wurde gestern am frühen Morgen gefunden.«
»Oh nein, das darf nicht Meike sein!« Die Stimme der Ärztin erstarb in trockenem Husten.
Neundorf gönnte ihr eine kurze Atempause, erkundigte sich dann nach der Anzahl der Mitarbeiterinnen in der Praxis.
»Wir sind sechs Frauen. Zwei Ärztinnen, drei MTAs und eine Azubi. Weshalb fragen Sie?«
»Haben Sie alle das Foto in der Zeitung gesehen?«
»Alle? Nein«, erwiderte Dr. Welser. »Außer mir sind nur noch zwei MTAs da.«
»Dann sind Sie im Moment zu dritt.«
»Ja. Worauf wollen Sie hinaus?«
»Was meinen Sie zu dem Foto? Ist jede von Ihnen überzeugt, dass es sich um Frau Kleemann handelt?«
Die Antwort ließ einen Moment auf sich warten. Neundorf hörte, wie sich die Frauen unterhielten, hatte dann die zögernd formulierten Worte der Ärztin in der Leitung. »Also, Tanja wollte es zuerst nicht … Aber jetzt nickt sie auch mit dem Kopf. Moment, ich geb sie Ihnen mal.« Sie verstummte, machte einer anderen weiblichen Stimme Platz.
»Ich, ich, ich kann es nicht glauben, aber …« Die Frau schien noch sehr jung, höchstens Mitte zwanzig. »Aber ich fürchte, doch …«
Neundorf war sich darüber im Klaren, welches Ausmaß an psychischem Stress sie ihren Gesprächspartnerinnen abverlangte. Das Foto eines toten Menschen daraufhin zu überprüfen, ob es eine bekannte Person darstellte, war umso schmerzhafter, je enger die Beziehung zu dem verblichenen Menschen war. Handelte es sich allein um einen beruflichen Kontakt, ließ sich die Situation im Allgemeinen leichter ertragen als wenn ein engeres persönliches Verhältnis zu der Person existierte. Der Reaktion der Frauen nach zu urteilen, schien ihre Beziehung zu Meike Kleemann über die normalen beruflichen Kontakte hinauszureichen.
»Ja, wir glauben, dass es sich um Meike handelt«, meldete sich Dr. Welser wieder zu Wort.
»Sie wissen, wo Frau Kleemann wohnt?«
»Ja, aber sicher, wir sind gute Freundinnen.«
»Sie hat Familie?«
»Meike? Nein, sie lebt allein. In der Weingärtner Vorstadt in Waiblingen.«
»In Waiblingen?« Neundorf konnte ihre Überraschung nicht verbergen.
»Ja, die Straße liegt in der Altstadt. An der Stadtmauer.«
»Danke, ich weiß Bescheid. Ich wohne selbst in Waiblingen. Wo leben die nächsten Verwandten von Frau Kleemann?«
»Die nächsten Verwandten?« Dr. Welser schien zu überlegen. »Ihr Bruder. Er wohnt in Wuppertal. In Oberbarmen, wenn ich das richtig weiß.«
»Sie hat keine Verwandten in der Nähe?«
»Hier bei uns? Nein, jedenfalls nicht, soweit ich informiert bin. Ein Onkel vielleicht, aber … Nein, das kann ich Ihnen nicht sagen, tut mir leid.«
»Und Ihre Praxis. Wo finde ich die?«
Neundorf notierte sich die Straße und die Hausnummer, bat die Ärztin
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