Schwaben-Herbst
ohne jeden Zweifel hätte sie mir das mitgeteilt, wir sind befreundet, ich habe es Ihnen doch erzählt, und außerdem helfen wir uns gegenseitig, wenn es irgendwelche Probleme mit der Zustellung gibt.
Nein, die Unterhaltung mit der Frau hatte genauso wenig gebracht wie all die anderen Gespräche auch, weshalb er jetzt in ganz besonderem Maß auf die Beobachtungen des Opfers selbst angewiesen war.
Braig schob die laut quietschende Treppenhaustür zurück, betrat die Station. Er schaute nach links und nach rechts, sah einen jungen Mann in heller Schutzkleidung wenige Meter entfernt aus einem der Zimmer treten, bat ihn lauthals um Auskunft.
»Frau Reisch?«, fragte der Mann. »Die darf aber nach Anweisung von Dr. Willer noch keinen Besuch erhalten.«
Braig las auf dem Namensschild, das sein Gesprächspartner auf der Brust trug, dass Marco Lüttner als Krankenpfleger arbeitete, wies sich aus. »Ich habe mit Dr. Willer gesprochen. Er hat mich extra angerufen, um mir mitzuteilen, dass ich mit Frau Reisch reden kann.«
Lüttner gab seinen Widerstand auf. »Ich bin informiert. Bei Ihnen sollen wir eine Ausnahme machen.« Er deutete ans Ende des Gangs. »Kommen Sie mit. Ich zeige Ihnen das Zimmer.«
Braig folgte dem Mann bis zur vorletzten Tür, betrat dann den Raum. Zwei Betten standen hintereinander aufgereiht, eines davon war leer. Im anderen lag eine über und über bandagierte Gestalt, deren Geschlecht nicht auszumachen war. Lediglich an der hohen Stimme konnte Braig erkennen, dass es sich um eine Frau handelte.
»Sie sind der Kommissar?«, fragte sie, kaum, dass er das Zimmer betreten hatte.
Er wunderte sich, dass sie das Gespräch von sich aus eröffnete, überlegte, dass dies ein gutes Zeichen sei. Wenn er der Frau nicht mühsam jedes Wort entlocken musste, war die Wahrscheinlichkeit, dass sie ihm irgendeinen im Endeffekt vielleicht wichtigen Hinweis auf den Täter geben konnte, umso größer. »Ich bin es, ja. Braig ist mein Name.« Er stellte sich ans Fußende des Betts, sah die Augen zwischen den Bandagen hervorlugen.
»Sie müssen den Kerl verhaften. Der ist schlimmer als ein Tier.«
»Wir werden alles tun, was wir können. Aber dazu benötigen wir Ihre Hilfe.«
»Ich weiß«, antwortete Marianne Reisch, »der Arzt hat mich informiert, dass sie auf meine Aussage angewiesen sind.«
»Es macht Ihnen nichts aus, darüber zu reden?« Braig sah die heftige Reaktion der Frau. Ihre Augenlider flogen auf und nieder, lautes Stöhnen machte die weitere Unterhaltung unmöglich.
»Sie müssen den Kerl kriegen«, gab sie schließlich mit gepresster Stimme von sich, »das ist das Wichtigste, ja?«
Er nickte mit dem Kopf, bewunderte die Willenskraft seiner Gesprächspartnerin. Die Frau schien über unbändige Energie zu verfügen, war offensichtlich bemüht, das alptraumartige Erlebnis aus freien Stücken zu bewältigen.
»Das Leben muss weitergehen«, erklärte sie. »Ich habe zwei Kinder zu versorgen, verstehen Sie?«
Das sagt sich so leicht, überlegte er. Aber war es wirklich zu schaffen, in ihrer Situation? Er musste sie schonen, durfte ihre Reserven nicht unnötig beanspruchen, soviel war ihm klar. »Was können Sie mir erzählen?«, fragte er. »Etwas, das uns zu dem Kerl führen könnte?«
Sie zögerte nicht lange mit ihrer Antwort. »Er ist zwei- oder dreimal an mir vorbeigefahren.«
Braig starrte die bandagierte Frau vor sich verwundert an. »Wann?«
»Kurz vor dem Überfall. Er muss es gewesen sein.«
»Sie meinen, er hat Sie beobachtet?«
»Genau. Ich habe mich noch gewundert …« Sie hielt mitten im Satz inne, stöhnte laut auf.
Der Kommissar betrachtete sie erschrocken. »Sollen wir eine Pause machen?«
Marianne Reisch kam nur langsam zur Ruhe. »Dieses schreckliche Kopfweh! Ich versuche mich schon die ganze Zeit zu konzentrieren, ob ich ihn näher beschreiben kann, aber es geht einfach nicht. Als ob mein ganzer Schädel platzen wollte!«
Braig schwieg, wartete, bis sie von sich aus weitersprach.
»Er ist die Straße auf und ab gefahren, ich habe es aus den Augenwinkeln beobachtet. Wie ein Jäger auf der Pirsch. Aber zu dem Zeitpunkt war mir das nicht bewusst.«
»Mit einem Auto?«
»Ein grüner PKW.«
»Grün?«
»Ja. Nicht so wie die Polizei. Heller. Ein helles Grün.«
»Das haben Sie gesehen?«
»Sie meinen, weil es noch dunkel war?« Sie schwieg einen Moment, starrte zur Decke. »Doch, ein helles Grün. Ich weiß es, weil ich das Auto zweimal sah. Der schon wieder, irgend so
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