Schwaben-Herbst
zu Andreas Sattler hin untersuchen. Sie überflog die Berichte der zur Anzeige gebrachten Diebstähle, Überfälle und Einbrüche, bei denen nachweislich Salzsäure entwendet worden war, fühlte sich von der aufgeführten Materialmenge erschlagen. Nein, das konnte warten. Erst wenn sich alle anderen Versuche, den Täter aufzuspüren, als Fehlschlag erwiesen, würde sie sich dieser Mühe unterziehen. Vielleicht hatte sie Glück und war nicht mehr darauf angewiesen, weil ein anderer Weg schneller zum Ziel führte. Das Verhör Lukas Feiners etwa, das in einer halben Stunde auf sie wartete.
Sie schob den Schriftsatz zur Seite, hörte das Telefon läuten, nahm ab. Weisshaars Stimme am anderen Ende klang sachlich und nüchtern wie immer.
»Ich hoffe, ich störe nicht. Es gibt neue Informationen im Fall Sattler.«
Neundorf horchte auf. »Und? Wie sehen die aus?«
»Die Kollegen haben die Aussage einer Nachbarin. Eine Frau Baumhauer. Sie behauptet, am späten Freitagabend einen Mann vor Sattlers Anwesen beobachtet zu haben.«
»Am späten Freitagabend? Das war die Nacht, in der Andreas Sattler getötet wurde. Wieso meldet sie sich erst jetzt?«
»Weil sie erst gestern Abend zurückkam und heute Morgen von dem Mord erfuhr. Kurzurlaub über den Nationalfeiertag. Auf jeden Fall war sie am Freitag etwa eine halbe Stunde vor Mitternacht dabei, ihren Wagen zu starten, als sie das Auto vor Sattlers Haus anhalten und den Mann aussteigen sah. Sie erkannte sofort, dass es sich weder um den Vater noch den Sohn handelte, wunderte sich, wer da so spät noch unterwegs war. Ein alter VW-Käfer, wie sie erklärte. Sie wissen, wer diesen Fahrzeugtyp fährt?«
Neundorf brauchte nicht lange zu überlegen. Lukas Feiner, das hatten die Ermittlungen ergeben.
»Frau Baumhauer bedauert zwar, sich das Kennzeichen nicht gemerkt zu haben, dafür kann sie den Mann aber recht gut beschreiben. Sie sah ihn nämlich aussteigen und durch das Licht seiner beiden Scheinwerfer aufs Haus zu laufen.«
Sie wusste augenblicklich, wie wertvoll diese Beobachtung war. Eine Person in der Nacht im Licht von Autoscheinwerfern zu sehen, kam deren kurzzeitigem Aufenthalt in einem erleuchteten Schaufenster gleich. Wenn sie Glück hatten, handelte es sich hier um den entscheidenden Hinweis auf den Täter. Sie musste die Frau sofort sprechen.
»Sie haben die Nummer von Frau Baumhauer?«
Neundorf spürte Erregung in sich wachsen, als sie die Ziffern notierte.
3.
Zwei Monate etwa hatte es gedauert. Zwei Monate vom Anfang bis zum Ende.
Vor zwei Monaten etwa, an das genaue Datum konnte er sich nicht mehr erinnern, war die Visage Sattlers in der Zeitung zu sehen. Andreas Sattler Sieger beim Stuttgarter Schachturnier. Sattler, wie er leibte und lebte, ein Schachbrett vor sich, voller Konzentration auf die Figuren gaffend. Dazu der ausführliche Bericht über all die erfolgreichen Partien des Tages, vor allem seine überraschenden Siege über den Vorjahressieger Lukas Feiner und über den insgeheimen Favoriten des Turniers, einen russischen Großmeister. Zwei Monate nur und schon war es geschehen. Zwei Monate, die genügt hatten, Sattler aufzuspüren, sich über seine alltäglichen Gewohnheiten kundig zu machen und ihn zur Strecke zu bringen. Zwei Monate. Das Foto und der Bericht in der Zeitung, und zwei Monate später war er tot.
Und jetzt? Jetzt war er an der Reihe. Erst Sattler, dann er.
Gab es irgendeinen Zweifel?
Salzsäure ins Gesicht und auf die Hose.
Das passte. Genau das. Nein, es gab keinen Zweifel. Nicht den Hauch eines Zweifels. Jetzt war er an der Reihe. Erst der eine, dann der andere.
Er überlegte, wie lange es wohl dauern würde. Zwei Monate für Sattler, zwei Monate für ihn? Zwei Monate, um Sattlers Lebensgewohnheiten genau auszukundschaften und dann zuzuschlagen – genau dieselbe Zeit, um die Sache mit ihm zu erledigen?
Oder nicht einmal so lange, weil er selbst ebenfalls längst überwacht, seit Wochen verfolgt und auf seine Verhaltensweisen hin ausspioniert worden war?
Er spürte, wie es ihm kalt über den Rücken lief. Gänsehaut kroch ihm über die Schulterblätter, erreichte seine Oberarme, breitete sich dort aus. Wie, wenn es tatsächlich so war? Sattler aufspüren, sich in dessen Umgebung nach ihm erkundigen, beide gleichzeitig beobachten und dann auf die erste Gelegenheit warten, die sich ergab? Vielleicht war es nur Zufall, dass es Sattler zuerst erwischt hatte, vielleicht hatte sich bei ihm bisher noch keine so günstige
Weitere Kostenlose Bücher