Schwaben-Herbst
bisher vertraut gewesen war: Jetzt, ohne jedes Zögern, sofort.
Es dauerte ein paar Minuten, bis er sich der Tragweite dieser Überlegung klar wurde. Raus aus der Wohnung, Schluss mit dem Job, abruptes Kappen aller Beziehungen – jedenfalls fürs Erste, die nächsten Wochen oder Monate.
Gab es wirklich keine Alternative?
Er trat vom Telefon weg, kam an der schmalen Anrichte vorbei, sah den Zeitungsartikel. Student vor dem Elternhaus erschossen. Andreas S. in Reutlingen ermordet.
Nein, es gab keine Alternative. Er musste weg. Jetzt, ohne jedes Zögern, sofort. Jede Minute konnte zu spät sein. Wenn er Pech hatte, war die Bestie bereits unterwegs auf dem Weg zu ihm.
In dem Moment, in dem er seine einzige Zukunftsperspektive endlich begriffen hatte, läutete es an seiner Tür.
4.
Gab es noch den geringsten Zweifel? War die Sache nicht vollkommen klar?
Neundorf hatte gut daran getan, sich sofort nach Weisshaars Anruf persönlich mit Iris Baumhauer in Reutlingen in Verbindung zu setzen und die Frau um eine möglichst genaue Beschreibung des am vergangenen Freitag zu später Stunde vor dem Anwesen der Sattlers beobachteten Mannes zu bitten. Mitte Zwanzig, kurze dunkle Haare, breite Koteletten und ein schmaler Kinnbart, von eher kleiner Körpergröße und schlanker Figur – die kurze Aufzählung reichte, Neundorfs Gedanken sofort in die Richtung der Person zu lenken, die vor wenigen Stunden in Nürtingen festgenommen und deren Aussehen ihr bei ihrer Nachfrage von den Kollegen der Schutzpolizei kurz und knapp als kleiner dünner Koteletten-Spitzbart übermittelt worden war.
»Wären Sie zu einer Gegenüberstellung bereit, eventuell heute Mittag noch?«, hatte sie ihre Gesprächspartnerin gefragt.
Iris Baumhauer war nach kurzem Zögern auf ihren Wunsch eingegangen, hatte ihren Besuch im LKA für 16 Uhr angekündigt. Dermaßen ermutigt, hatte Neundorf keinen Grund gesehen, das Verhör Lukas Feiners nicht offensiv zu beginnen. Thekla Kliss, die neben ihr Platz genommen hatte, war unruhig auf ihrem Stuhl hin und her gerückt, als sie die eröffnenden Worte der Kommissarin vernommen hatte.
»Wir können uns dieses Gespräch eigentlich sparen, weil wir sowieso alles wissen. Ich fasse mich deshalb kurz: Sie, Lukas Feiner, sind in der Nacht vom vergangenen Freitag auf Samstag, den 29. September, nach Reutlingen zu den Sattlers gefahren, haben eine halbe Stunde vor Mitternacht mit ihrem VW-Käfer vor deren Anwesen angehalten, sind ausgestiegen und haben dann Ihren Freund Andreas Sattler vor dem Haus seiner Eltern mit Säure attackiert und getötet. Sie hatten Streit miteinander, waren in großer Wut und konnten sich nicht länger beherrschen. Sie sollten erst gar nicht versuchen, das abzustreiten. Wir haben nämlich Zeugen, die Sie dabei beobachtet haben.«
Die kleine, schmächtige, ohnehin schon zerbrechlich wirkende Gestalt des jungen Mannes war in sich zusammengefallen, hatte kaum die Kraft gefunden, den aggressiven Sätzen der Beamtin entgegen zu halten.
»Es dreht sich nur noch um die Unterschrift unter Ihr Geständnis«, hatte Neundorf ohne Pause hinzugefügt, den Druck auf den Beschuldigten bewusst verstärkend. »Hier sind der Stift und das Papier. Ersparen Sie sich und uns jeden weiteren unnützen Palaver. Wir wissen …« Sie hatte sich über den Tisch gebeugt und ihm ein leeres Blatt und einen Kugelschreiber zugeschoben, den Mann dabei scharf musternd.
Feiners Reaktion war mitten in ihrer provozierenden Aktion erfolgt. Er hatte nicht länger an sich halten können, war ihr mitten ins Wort gefallen. »Er, er war, war schon tot«, hatte er gestottert, »Andreas war, war tot, als ich, ich kam.« Seine bleiche, ausgezehrt wirkende Miene war hellrot angelaufen, hatte einem verzweifelt um Verständnis heischenden Ausdruck Platz gemacht.
Neundorf war ruhig geblieben, hatte völlige Teilnahmslosigkeit vorgetäuscht.
»Sie, Sie müssen mir glauben, glauben«, hatte Feiner hinzugefügt. »Ich, ich habe außen, außen geläutet, die Gartentür, Gartentür aufgedrückt. Und als ich, ich um die Ecke, Ecke komme, ist alles, alles hell erleuchtet und Andreas, Andreas liegt vor mir auf, auf dem Boden.«
»Wo haben Sie die Pistole her?«, hatte Neundorf ungerührt erwidert.
»Sie, Sie müssen mir glauben, glauben. Ich kann so, so eine Pistole, Pistole gar nicht verwenden, das ist, ist nichts für mich. Ich, ich weiß überhaupt nicht, wie, wie ich mit so, so was umgehen soll. Andreas, Andreas war tot. Ich, ich bin um
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