Schwaben-Herbst
einem lauten Schlag klatschte das dunkle Leder auf den Boden. Kugelschreiber, Cremedosen, Schminkutensilien verteilten sich unter der Garderobe.
»Na, wer weiß, ob das nicht besser wäre«, frotzelte Marina Hölzle, »wenn du schon deine Tasche nicht mehr halten kannst …« Sie verstummte, lauschte auf ein Geräusch draußen auf der Straße, starrte zur Tür. »Was war das?«
Irgendein lautes Knallen, kurz darauf die quietschenden Reifen eines abrupt startenden Wagens.
Tanja Giebert sah das angespannte Gesicht der Kollegin, suchte den Inhalt ihrer Tasche zusammen, richtete sich wieder auf. »Ich glaube, da hat noch jemand seine Tasche fallen lassen«, versuchte sie zu scherzen.
Ihr Lachen wirkte erlösend. Marina Hölzle klopfte ihr kumpelhaft auf die Schulter, ging zur Tür. »Schluss für heute?«
»Meinetwegen ja! Alles okay.«
Sie drückte auf den Lichtschalter, tauchte den Büchereieingang ins Dunkel, öffnete die Tür. »Dann raus mit dir an die frische Luft. Die macht müde Frauen munter.«
Sie traten auf die Straße, spürten den kalten Wind. Einzelne Blätter wirbelten durch die Luft. Es hatte sich um mehrere Grad abgekühlt, der Herbst schien den Spätsommer endgültig vertrieben zu haben. Die Straße war menschenleer, lediglich drei geparkte Autos waren mehrere Meter entfernt auf der anderen Seite der Straße zu sehen.
Tanja Giebert spürte ein leichtes Frösteln im Nacken, zog ihre Jacke fester. Sie ließ die Tür einrasten, schloss sie ab, steckte den Schlüssel in die Tasche. Von der nahen Schlossstraße her waren die Geräusche mehrerer Fahrzeuge zu hören. Sie wandte sich von der Bücherei ab, wies auf ihr Auto, warf ihrer Kollegin einen fragenden Blick zu. »Es ist ganz schön kalt. Fährst du mit?«
Marina Hölzle nickte. »Weil es so spät ist, gern.«
Eine neue kräftige Windbö peitschte durch die Straße, wirbelte einen Schwarm trockener Blätter in die Höhe. Sie passierten das weiß gestrichene Metallgitter, das den Gehweg vor dem Büchereieingang von der Fahrbahn abschirmte, querten die Straße, liefen auf Tanja Gieberts Wagen zu.
»Puh, bin ich froh, dass wir alles gut geschafft haben.« Marina Hölzle blies die Luft laut von sich. Ihrer Stimme war die Erleichterung deutlich anzuhören. Sie atmete tief durch, wandte sich zur Seite. »Mal sehen, was die Zeitungen schreiben und wie die Leute in den nächsten Tagen reagieren, ja?«
Tanja Giebert setzte gerade an, ihr zuzustimmen, als sie den seltsamen, in den Schatten der Rückfront ihres Autos getauchten Umriss bemerkte. Sie verharrte mitten im Schritt, streckte ihren Arm zur Seite, hielt die Kollegin zurück.
Marina Hölzle drehte sich überrascht zu ihr um. »Was ist los?«
Die junge Büchereileiterin stand wie erstarrt mitten auf der Straße, die Augen auf die Lücke hinter ihrem Auto gerichtet.
»Was ist los?«, wiederholte ihre Begleiterin.
Tanja Giebert bewegte sich nicht von der Stelle, öffnete langsam, wie in Zeitlupe, den Mund. »Was, was liegt …« Sie starrte nach vorne, suchte die Dunkelheit mit ihrem Blick zu durchdringen. Es dauerte mehrere Sekunden, bis sich ihre Augen an das Dämmerlicht gewöhnt hatten. Zuerst erkannte sie nur einen großen, im blassen Schein eines weit entfernten Lichts glänzenden, blitzblank polierten Schuh, dann das Bein, das dazu gehörte und schließlich …
Schrilles, markerschütterndes Schreien übertönte alle anderen Geräusche. Erschrocken wandte sie sich zur Seite, sah die wie in einem Horrorfilm entstellten Gesichtszüge ihrer Kollegin. Marina Hölzle stierte in die Lücke zwischen den Autos, schrie sich ihr Entsetzen aus dem Leib. Selbst das ältere Ehepaar, das gerade wohlgesättigt und zufrieden nach einem rundum gelungenen Abend aus der mehr als hundert Meter entfernten, durch mehrere Gebäude vom Kiesweg getrennten Alten Vogtei ins Freie trat, blieb unmittelbar vor dem Eingang des pittoresken Fachwerkhäuschens stehen. Ob sie es wollten oder nicht, irgendein Unterton in diesem Schreien ließ jeden Gedanken an die romantischen Stunden in der bezaubernden Gaststätte vergessen!
8.
»Erschosse? Bei os in Könge?«
Die aufgeregte Stimme schallte laut durch die Nacht, als Neundorf auf die ins grelle Licht gleißender Strahler getauchte Gruppe am Rand der Straße zulief. Einer der Männer in den hellen Schutzanzügen sah sie kommen, hob seine Hand zu einem matten Gruß. Sie erkannte Hutzenlaub, wunderte sich über sein blasses Gesicht. Seine Augen wirkten eingefallen,
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