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Schwaben-Herbst

Schwaben-Herbst

Titel: Schwaben-Herbst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus Wanninger
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sein Teint bleich, fast wie Papier. Das war sie von dem Spurensicherer nicht gewöhnt. War er krank oder lag es an der späten Stunde? Sie nickte ihm kurz zu, schob sich an ihm vorbei, sah Helmut Rössle, halb auf den Boden gestützt, mit einem jungen, gut aussehenden Mann reden. Beide wandten ihr die Seite zu, waren auf einen von ihren Körpern verdeckten Gegenstand unter ihnen fokussiert.
    »Abend zusammen«, sagte sie etwas lauter als bei einem normalen Gespräch üblich, um die Männer auf sich aufmerksam zu machen.
    Rössle sah als Erster auf. Er benötigte ein paar Sekunden, um zu begreifen, wer vor ihm stand. »Abend isch gut«, brummte er schließlich, drückte sich etwas zur Seite, gab den Blick auf das Objekt unter ihm frei. »En guter Morge träfs besser, fascht a Stund nach Mitternacht.«
    Neundorf kam zu keiner Antwort, starrte wie gebannt auf den Boden. Der Schock übermannte sie im selben Moment, ergriff innerhalb einer Sekunde von ihrem ganzen Körper Besitz. Sie fühlte sich wie ein angezählter Boxer, spürte buchstäblich die Schläge, die man ihr in den vergangenen Runden angetan hatte. Mindestens zwei Dutzend in den Leib, eine Handvoll mitten ins Gesicht. Was sie hier vor sich sah, übertraf ihre schlimmsten Befürchtungen.
    »Scheiße, was?«, tönte es hinter ihr.
    Sie wusste nicht, wie lange sie benötigte, zu begreifen, dass es sich um Hutzenlaubs Stimme handelte. Der schockartige Zustand, der ihren Körper im Griff hatte, war von seltsamer Ambivalenz: Einerseits versetzte er sie in einen Taumel außergewöhnlicher Erregung, andererseits hatte er eine alle vernünftigen Gedanken und Handlungen lähmende Starre zur Folge. Davon hatte man ihr nichts erzählt, als der Notruf nach Köngen erfolgt war. Sie kam erst wieder voll zu sich, als der junge, gerade noch auf dem Boden kniende Mann hoch aufgerichtet vor ihr stand und nach ihrer Hand griff.
    »Holger Schäffler«, stellte er sich vor, »ich bin der Gerichtsmediziner.«
    Sie ließ sich die Hand schütteln, nahm erst Sekunden später seinen Anblick genauer wahr. Ein großer Mann Mitte Dreißig mit langen dunklen Haaren. Irgendwie kam er ihr bekannt vor. Sie wusste nicht, woher, fand nicht die Konzentration, darüber nachzudenken. Der tote Mensch vor ihr beanspruchte ihre gesamte Aufmerksamkeit.
    »So eine verdammte Scheiße«, schimpfte Hutzenlaub hinter ihr.
    Sie benötigte keinerlei Erklärung, zu verstehen, was er meinte. Der leblose Körper am Rand der Fahrbahn offenbarte im grellen Licht der gleißenden Strahler unbarmherzig alle Entstellungen und Verletzungen, die man ihm angetan hatte. So gerne sie sich seine genauere Untersuchung erspart hätte, sie konnte nicht darauf verzichten – das war nun mal ihr Beruf. Eine seiner besonders unangenehmen Seiten.
    Sie musterte das Gesicht des Toten, eines mit ursprünglich weißem Hemd, gemusterter Krawatte und dunklem Anzug bekleideten Mannes zwischen Fünfzig und Siebzig, sah die verunstalteten Partien am Kinn, den Wangen, dem Hals. Von Säure zerfressene, verkochte, aufgequollene Haut. Etwas tiefer, zwei von getrocknetem Blut gesäumte Einschusslöcher mitten in der Brust; unterhalb des Nabels Reste aufgelöster Stoffteile der Jacke und der Hose. Ob sie es wollte oder nicht, es gab keinerlei Zweifel, was die Stunde geschlagen hatte.
    Wie in Reutlingen, schoss es ihr durch den Kopf. Haargenau dieselben Entstellungen, fast auf den Zentimeter genau die gleichen Wunden. Das gleiche Vorgehen, der gleiche Sadismus – derselbe Täter? Die Parallelität war nicht zu übersehen.
    »Säure«, erklärte Rössle, »wahrscheinlich Salzsäure.« Er schaute, immer noch neben der Leiche kniend, zu ihr hoch, kratzte sich heftig am Kinn. »Da war scho wieder dieser Deifel am Werk.«
    Sie wandte ihren Blick von dem toten Körper weg, konzentrierte sich auf den Spurensicherer.
    »Alle Idiote von Sindelfinge, des isch an schöner Mischt, was?«, brummte der.
    Sie nickte nur, ersparte sich jeden Kommentar. Der Schock saß zu tief in ihren Gliedern. Das war das Schlimmste, was hatte geschehen können. Derselbe Täter. Schon wieder ein Mensch auf solch barbarische Weise überfallen und ermordet.
    »Wie in Reutlingen. Dieselbe Scheiße.« Hutzenlaub drängte sich vorsichtig an ihr vorbei, ließ sich zu Rössle nieder. Er hatte eine Kamera in der Hand.
    »Genau derselbe?«, rutschte es ihr von den Lippen. »Oder vielleicht ein Nachahmer?«
    Der Spurensicherer schaute zu ihr auf, hielt sich die Hand vor die Augen, um

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