Schwaben-Herbst
da am Rand der Straße liegt. Ich habe nur die Umrisse gesehen, zuerst jedenfalls, wenn Sie verstehen …«
Die Kommissarin nickte, bedankte sich bei der uniformierten Kollegin, die aufgestanden war und ihr ihren Stuhl anbot, nahm Platz. »Sie waren zusammen, als Sie ihn fanden?«, fragte sie.
Die junge Frau fuhr ihrer Nachbarin sanft über die Wange, brachte sie langsam zum Verstummen. »Wir, wir liefen aus der Bücherei über die Straße …«
»Wann war das?«
»Gegen Elf. Ich meine 23 Uhr«, verbesserte sie sich.
Neundorf erkundigte sich nach der Identität der beiden Frauen, erfuhr, dass es sich um Tanja Giebert, die junge Leiterin der Gemeindebücherei und ihre Kollegin Marina Hölzle handelte, ließ sich den Grund ihres späten Aufbruchs, den Verlauf des Abends und die genauen Umstände des Auffindens des Toten genau erklären. »Und ich verstehe das richtig: Bei dem Toten, den Sie dort fanden, handelt es sich um Herrn Grauselmaier, den Referenten Ihrer Veranstaltung?«
»Das … ist doch … der Wahnsinn«, rief Marina Hölzle in nur schwer verständlichen, von kurzen Heulkrämpfen unterbrochenen Worten, »der Mann kommt zu uns und hält … seinen Vortrag und diskutiert mit den Leuten und dann, dann …«
»… wird er ermordet«, ergänzte Tanja Giebert mit gedämpfter Stimme. »So ist es doch, oder?« Sie warf der Kommissarin einen fragenden Blick zu.
Neundorf bestätigte ihre Vermutung mit einem wortlosen Kopfnicken.
9.
Stuttgart 21. Der Abend war länger geworden als Braig es sich vorgestellt hatte. Zuerst ein bunter, die Zukunft in den prächtigsten Farben ausmalender Werbefilm der Befürworter, dann die Statements von Vertretern der Landesregierung, der Stadt, der Bahn sowie von mehreren Umwelt- und Verkehrsverbänden, anschließend die lange, unüberhörbar von Betroffenheit über bisher offensichtlich verschwiegene, verheimlichte oder bewusst verlogene Behauptungen geprägte Diskussion. Gemeinsam mit Theresa Räuber, Katrin Neundorf und Thomas Weiss hatten sie die Veranstaltung im völlig überfüllten Hospitalhof in der Stuttgarter Innenstadt verfolgt. Theresa Räubers ursprünglicher Plan, die Veranstaltung in ihrer eigenen Gemeinde abzuhalten, war durch die zunehmend in den Blickpunkt der öffentlichen Diskussion geratene Problematik obsolet geworden; Vertreter des Gesamtkirchengemeinderats hatten sie davon überzeugt, dass der von der Landeskirche getragene Hospitalhof der geeignetere Vortragsort sei. Die große Anzahl der abendlichen Besucher hatte diese Entscheidung im Nachhinein bestätigt.
»Mir fällt es schwer, meine Meinung zu dem Projekt Stuttgart 21 zu äußern«, hatte Theresa Räuber als Moderatorin zu Beginn der Veranstaltung bekannt. »Fünfzehn Jahre lang habe ich von den politisch Verantwortlichen und den meisten Medien unisono nur Lobeshymnen und überschwängliche Begeisterungsstürme zu der Sache gehört und erst jetzt, wo das Vorhaben durchgepaukt scheint, lässt man auch Kritiker zu Wort kommen.« Sie konnte, wie viele andere Teilnehmer des Abends, nicht ahnen, wie fundamental sich ihre Stellung zu dem Projekt in den nächsten Stunden ändern sollte.
Die Vertreter der Landesregierung, der Stadt und der Bahn schienen sich einig: Stuttgart 21 war der einzig richtige Weg in eine gloriose Zukunft des ganzen Landes. Der alte Stuttgarter Kopfbahnhof solle samt der großen zentrumsnahen Flächen des bereits brachliegenden Güterbahnhofs sowie des Wagen- und Lokabstellbahnhofs zugunsten eines unter die Erde verlegten hypermodernen Durchgangsbahnhofs aufgegeben, dazu mit einem etwa dreißig Kilometer langen Tunnel mit dem zweihundertfünfzig Meter höher gelegenen Stuttgarter Flughafen und der daran anschließenden, parallel zur Autobahn verlaufenden Schnellfahrstrecke nach Ulm verbunden werden. Bahnreisenden böten sich dadurch große Vorteile: Die Reisezeiten verkürzten sich deutlich, von Stuttgart nach Ulm etwa um fast dreißig Minuten, die internationale Verbindung Paris – Budapest werde um eine halbe Stunde beschleunigt. Auch der Stadt Stuttgart eröffneten sich völlig neue Perspektiven, würden doch nahe dem Zentrum große Rächen für Siedlungs- und Grünareale frei, dazu erhalte die Stadt einen neuen Bahnhof. Stuttgart 21 also ein Symbol für Dynamik, Fortschritt, Tempo, Exklusivität, Einzigartigkeit, Future, Vitalität … Die Lobeshymnen wollten kein Ende nehmen.
All diese rosigen Visionen einer traumhaft zum Paradies verwandelten Welt inmitten des Ländles
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