Schwaben-Herbst
hatte Braig in den letzten Jahren tausendfach vernommen, die Korrektur dieser Behauptungen führte jedoch zu einem völlig anderen Bild. Mit Erstaunen nahm er wahr, dass sich unzählige bundesweit bekannte Verkehrswissenschaftler und Stadtplaner von Rang und Namen vehement gegen dieses Projekt wehrten. Nicht dem neuen, mehrere Milliarden Euro teuren Bahnhof ist die Zeitersparnis von fast dreißig Minuten Richtung Ulm zu verdanken, belegten die Vertreter der Umweltverbände, von Pro Bahn und Verkehrsclub Deutschland mit detaillierten Berechnungen, sondern der Neubaustrecke von Wendlingen im Neckartal entlang der Autobahn über die Alb. Diese Strecke hat jedoch mit dem Bahnhofsneubau überhaupt nichts zu tun. Sie ist dem Votum der meisten Bahnexperten nach notwendig und sollte trotz ihrer ca. 3,5 Milliarden Euro Kosten gebaut werden.
Der neue Bahnhof dagegen wird die Reisezeit der meisten Bahnreisenden, die den Raum Stuttgart tangieren, nicht verkürzen, sondern verlängern. Die Mehrheit der Reisenden ist nämlich nicht von Paris nach Budapest unterwegs, sondern z. B. aus dem Raum Heilbronn in Richtung Tübingen oder aus der Region Schwäbisch Gmünd in Richtung Rottweil. Weil die neue Station jedoch nur über acht Gleise verfügen wird, können die zum Umsteigen nötigen Anschlusszüge nur nacheinander ein- und ausfahren, was die Umsteigezeiten deutlich verlängert – besonders schlimm wird dies im Fall von Verspätungen. In Stuttgart soll genau das Gegenteil dessen realisiert werden, was überall sonst auf der Welt angestrebt wird: Prinzipiell legt man bei Bahnhofsumbauten Wert auf viele Gleise, damit gleichzeitige Anschlüsse gewährleistet werden können.
Sogar die Hochgeschwindigkeitszüge Paris – Budapest werden durch den neuen Bahnhof nur um eine einzige Minute schneller, korrigierten die Umweltverbände, die ICEs hielten heute schon nur drei Minuten. Soviel Zeit aber werde benötigt, um die Reisenden aus- und einsteigen zu lassen. Im Gegenteil: Der geplante Halt am Flughafen wird die Züge nach München inklusive Abbremsen und Beschleunigen acht Minuten kosten, sodass ein Teil des Zeitgewinns der teuren Neubaustrecke dadurch aufgezehrt wird.
Ein weiterer großer Nachteil, wurde ausgeführt, wird sein, dass alle Reisenden Treppen, Rolltreppen oder Aufzüge benützen müssen, um zu den Zügen zu gelangen. Kann man heute noch vom Nordeingang her ebenerdig in den Bahnhof und zu allen Gleisen gelangen, was besonders für ältere und gehbehinderte Menschen ein unschätzbarer Vorteil ist, fällt dies flach. Wie oft Rolltreppen und Aufzüge jedoch defekt sind, kann man heute schon täglich an den Zugängen zur S-Bahn erleben.
Vollends am Rand der Legalität verläuft die Finanzierung des Projekts, belegten die Verbände mit genauen Zahlen. Wichtigstes Fundament des Bauvorhabens sind die Gelder des Nahverkehrs: 700 Millionen Euro, die dem Land in den nächsten Jahren von der Bundesregierung überwiesen werden, um damit den öffentlichen Nahverkehr in ganz Baden-Württemberg zu betreiben, sollen in den Bau der Tunnel fließen. Dies stellt nicht nur einen Verstoß gegen geltende Vorschriften dar, sondern bedeutet den Ausfall tausender Züge, ja die Stilllegung ganzer Strecken im Land. Damit nicht genug: Um die Deutsche Bahn für das Projekt einzunehmen, übergab die Landesregierung den Nahverkehr fast aller Bahnstrecken im Land für die nächsten fünfzehn Jahre an diesen Konzern, obwohl Konkurrenzunternehmen den Betrieb bei gleicher Qualität um 40 Millionen Euro pro Jahr billiger durchgeführt hätten. Auf diese Weise werden dem Nahverkehr zusätzliche 600 Millionen Euro entzogen.
Wer jedoch glaubt, nach der Fertigstellung des Projekts würde alles besser, täusche sich gewaltig: Der Bau der kilometerlangen Tunnel werde das Bahnfahren drastisch verteuern. Allein die Unterhaltung der komplizierten unterirdischen Bauwerke verschlinge gewaltige Summen. Der vielen Trinkwasser-Quellen im Stuttgarter Gebiet wegen müsse ständig mit Verwerfungen gerechnet werden. Werde aber ein einziger Tunnelabschnitt gesperrt, sei der gesamte Bahnverkehr von und nach Stuttgart lahmgelegt.
Braig wusste, wie problematisch dies war. Alle paar Wochen kam es heute schon zu Vorfällen im S-Bahn-Tunnel, die den Betrieb oft über Stunden hinweg blockierten. Noch konnte man in diesen Situationen einen Teil des Zugverkehrs in den Kopfbahnhof verlegen, doch genau der sollte ja beseitigt werden. Er erinnerte sich zudem an einen Besuch
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