Schwaben-Herbst
dieser Versenkung, wollen Anerkennung, geachtet werden, dabei sein im Spiel der Großen: Stuttgart – der Nabel der Welt. Rio de Janeiro, Shanghai, Stuttgart – in dieser Gesellschaft wollen sie stehen, im Rampenlicht des Weltgeschehens und nicht dort im Südwesten der Republik.
Anstatt stolz zu sein auf ihre landschaftlich so schöne, wirtschaftlich prosperierende, kulturell vielschichtige, städtebaulich mit vielen kleinen Höhepunkten ausgestattete Provinz, grämen sie sich wie pubertierende, verpickelte Jünglinge, dass sie nicht mitmischen dürfen im gelangweilt-lustlosen Spiel der Lebemänner, dass ihr Stuttgärtle außerhalb des Ländles nicht als globale Metropole registriert wird, sondern als das, was es wirklich ist: eine landschaftlich reizvoll gelegene Stadt mit lebens- und liebenswerten Stadtteilen und interessantem Umland – etwas abseits vom Weltgeschehen zwar, aber mit hoher Lebensqualität, selten niedriger Kriminalitätsrate und freundlichen, na ja, meist freundlichen Menschen. Weil den Großkopfeten aus Politik, Wirtschaft und den Medien dies aber nicht genügt, versuchen sie sich an den eigenen Haaren aus dem selbst verursachten Sumpf zu ziehen. Ihr Minderwertigkeitskomplex bohrt und nagt an ihnen und es fuchst und wurmt sie, dass sie nicht ganz oben mitspielen dürfen und deshalb tun sie auf Teufel komm raus alles, um endlich überall in der Welt als hypermodern, kultig-trendig, future-styled anerkannt zu werden. München hat seinen Flughafen – wir auch! Frankfurt hat seine Messe – wir auch! Berlin hat seinen Durchgangsbahnhof – wir auch! Pubertäres Verhalten verpickelter Jünglinge, fernab jeden rationalen Gedankens – der Versuch, die wohl aus der pietistischen Tradition resultierenden Minderwertigkeitsgefühle zu bewältigen. Ich fürchte, dieser schwäbische Komplex spielt eine wichtige Rolle bei der Entscheidung für dieses Projekt.«
»Der schwäbische Komplex …« Braig wurde vom Läuten seines Handy überrascht. Er verstummte mitten im Satz, schielte auf Ann-Katrins Uhr, sah die beiden Zeiger nah beieinander stehen. Der Große nur wenige Millimeter rechts vom Kleinen. Fünf nach Zwölf. Kurz nach Mitternacht. Früher Samstag Morgen, wenn man so wollte. Wer konnte das sein, außer …
Der Signalton ertönte zum dritten Mal.
»Worauf wartest du noch?«, seufzte Ann-Katrin laut.
Braig griff in seine Tasche, zog das Gerät vor, warf einen Blick aufs Display. »Das Amt«, sagte er.
»Wer sonst?«, antwortete sie.
Er nahm das Gespräch an, drückte das Handy an sein Ohr.
»Weisshaar hier, ich weiß, wie spät es ist, aber es handelt sich um …«
Das laute Gelächter einer Gruppe Männer am Nachbartisch übertönte alle anderen Geräusche. Braig hatte Mühe zu verstehen, verstärkte den Druck auf sein Ohr.
»… in Esslingen«, hörte er die Stimme des Kollegen.
»Was ist in Esslingen?«
»Eine Frau wurde überfallen. Angeblich von einem mit einer Militärjacke bekleideten Mann. Sie verstehen?«
Braig fuhr es siedendheiß durch sein Inneres. Und ob er verstand! Freitagabend, Wochenende. War es wieder geschehen? Hatte der Kerl wieder zugeschlagen? Überall im gesamten Großraum Stuttgart waren die Kollegen der Schutzpolizei mit besonderer Aufmerksamkeit unterwegs, aber das war natürlich viel zu wenig. Ein Tropfen auf den heißen Stein, überlegte er. »Was ist mit der Frau?«, fragte er. »Sie lebt?« Er bemerkte den erstaunten Blick der jungen Bedienung, die gerade vorbei kam, konzentrierte sich auf die Antwort des Kollegen.
»Mir liegen keine Informationen darüber vor, tut mir leid. Es gibt aber einen Zeugen. Die Kollegen sprechen gerade mit dem Mann. Du kümmerst dich um die Sache?«
Braig sagte zu, ließ sich die Handy-Nummer der Schutzpolizei-Streife in Esslingen geben.
Wenige Minuten später war er unterwegs zur S-Bahn-Station Stadtmitte, nahm einen der letzten Züge nach Esslingen und suchte den Kollegen der Schutzpolizei, der dort vor dem Bahnhof auf ihn wartete.
»Eine seltsame Sache ist das«, erklärte der Beamte, als er neben ihm im Dienstwagen Platz genommen hatte.
»Was für eine seltsame Sache?«
»Die Frau ist offensichtlich verschwunden.«
»Welche Frau?«
»Hano, die Frau, die überfallen wurde.«
Braig glaubte nicht richtig zu hören. »Was heißt verschwunden?« Er starrte zur Seite, warf dem Kollegen einen überraschten Blick zu.
»Sie ist weg«, antwortete der Mann, »spurlos verschwunden. Wir haben nach ihr gesucht, die gesamte
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