Schwaben-Herbst
Politik. Verantwortung steht unserem Streben nach Fortschritt nur im Weg. Also weg damit. Nur so ist zu verstehen, was wir Ihnen und Ihrer Polit-Chose zu verdanken haben.
Unsere Julia war fünfzehn, als sie auf dem Nachhauseweg von zwei sechzehn und siebzehn Jahre alten Heranwachsenden zuerst belästigt, dann, als sie nicht mitspielte, niedergeschlagen, ins Gebüsch gezerrt und vergewaltigt wurde. Sie hat sich nie davon erholt. Von Klinik zu Klinik, kein Arzt kann ihr helfen. Tag für Tag hockt sie in ihrem Zimmer, traut sich nicht aus dem Haus. Wissen Sie, wie weh das tut, nicht normal mit ihr sprechen zu können, ständig dieses verzagte Häuflein Elend vor sich zu sehen? Nein, das können Sie sich nicht vorstellen. Wissen Sie, wie man sich als Vater fühlt, wenn man hilflos mit ansehen muss, wie aus einem blühenden jungen Leben ein Wrack von einem Menschen wird, ein verwirrtes, verängstigtes Wesen, Dauerpatient in den Räumen der Psychiatrie?
Nein, ich weiß, damit dürfen wir Sie nicht belästigen. Was schert Sie ständig in allen Medien präsenter, vornehm lächelnder Herr unsere Verzweiflung?
Wem unsere Tochter ihr Elend zu verdanken hat, haben wir erst dem Prozess entnommen. Nein, auch wenn wir es gerne so hören würden, erklärte der Richter in der Urteilsverkündung, die beiden jungen Männer sind keine Bestien, die man wegsperren muss, keine Monster, die nicht fähig sind, mit anderen Menschen normalen Umgang zu pflegen, auch wenn sie sich unserer Tochter gegenüber so barbarisch verhielten. Sie handelten wie Bestien, aber sie sind keine Untiere.
Sie handelten wie Bestien, das hatten die detaillierten Untersuchungen der Polizei ergeben, weil sie zum Zeitpunkt der schrecklichen Tat unter dem Einfluss eines unmittelbar vorher gemeinsam genossenen Films standen, in dem sich ein cooler Held Frauen und Mädchen nimmt, wie sie ihm gerade über den Weg laufen und die Polizei dabei smilend und cool zum Narren hält. So cool wollten sie auch mal sein und dann lief ihnen unsere Tochter über den Weg …
Es mag wie eine Genugtuung klingen, dass der Richter die Manager des Privatsenders, der diesen Film sendete und die Politiker, die diesem Tun keinen Riegel vorschieben, mit in die Verantwortung zog – was aber nützt das der zerstörten Seele einer 15-jährigen?
Sie, Grauselmaier, sind seit Jahrzehnten politisch tätig, die Interessen dieser Privatsender zu vertreten und zu stärken, und Sie haben auch daran mitgewirkt, dass diese Sender überhaupt zugelassen wurden – obwohl wir am Beispiel der USA genau wussten, welcher Dreck, welch oberflächliche Flut, welche Orgien von Gewalt über uns alle hereinbrechen werden. Sie sind einer der Hauptdrahtzieher in diesem üblen Spiel. Wir werden dafür sorgen, dass Sie sich nicht länger aus der Verantwortung stehlen. Wer das Schwert in die Hand nimmt, soll durch das Schwert umkommen. So steht es schon im Alten Testament. Höchste Zeit, dass wir uns wieder an diese Verpflichtung erinnern. Sie haben das Schwert über uns gebracht. Jetzt wird es über Sie kommen. Ohne dass Sie sich davor schützen können. Wir werden Sie aufspüren und zerstören. So wie Sie uns und unser Glück zerstört haben. Sie werden dem Schwert nicht entgehen. So wie wir Ihnen und dem Unheil, das Sie über uns gebracht haben, nicht entgangen sind.
Ihre Stunde, Grauselmaier, wird kommen. Bald, sehr bald. Und nichts und niemand wird Sie davor schützen.
Seien Sie darauf gefasst. Von jetzt an Tag und Nacht.
Wir werden für ausgleichende Gerechtigkeit sorgen.
Garantiert.
Neundorf legte das Schreiben aus der Hand. Eines jener auf den ersten Blick abstrusen, letztendlich aber doch befremdlich, wenn nicht gar bedrohlich wirkenden Schriftstücke, die sich inzwischen, von Silvia Bäuerle sorgsam aussortiert, zu einem ganzen Berg auftürmten. Durften sie es wirklich ohne weitere Beachtung zur Seite legen oder war sie nicht verpflichtet, es ernst zu nehmen, jetzt, nachdem das, was hier angedroht wurde, tatsächlich geschehen war?
Sie atmete tief durch, betrachtete den Aktenstapel vor sich. Es schien, als wolle er kein Ende nehmen. Dabei waren sie jetzt schon den dritten Tag mit den Ermittlungen um die Ermordung des Politikers beschäftigt. Nicht nur sie allein, vielmehr eine eigens zur Aufklärung des Mordes an Grauselmaier eingesetzte Kommission.
Noch am Sonntagabend hatte der leitende Oberstaatsanwalt Koch die Sache persönlich übernommen. Zurückkehrend von einem Wellness-Weekend auf Ibiza
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