Schwaben-Herbst
leere Kisten Wasser und Bier und fuhr zum Supermarkt. Ausladen und auf einen Wagen packen und dann rein in den Laden. Sie kennen das ja. Nervig und umständlich wie immer. Aber zum Glück nicht so voll. Montag, da kaufen wohl nicht so viele ein. Sollte man sich direkt merken für die Zukunft. Auf jeden Fall: in dem Moment, wo ich da voll bepackt mit meinem Wagen in den Laden rein rolle, sehe ich sie plötzlich an der Kasse stehen. Sie ist dabei, ihre Tasche zu packen, lässt sich von der Kassiererin ihren Bon geben und geht.«
»Sie haben sie nicht verfolgt?«
»Verfolgt? Natürlich bin ich ihr nach. Aber versuchen Sie das mal mit vier Kisten auf dem Wagen und einer verrammelten Supermarkttür hinter sich. Die lassen sich doch nur in eine Richtung öffnen. Bis ich das richtig realisiert hatte, dass sie das wirklich ist, dann meinen Wagen zur Seite geschoben, die vermaledeite Eingangstür überwunden und der Kassiererin laut schreiend meinen Plan, einer Bekannten zu folgen, mitgeteilt hatte, war die über alle Berge. Ich weiß nicht, wie die das schaffte, aber als ich endlich auf der Straße stand, war sie verschwunden. Wie vom Erdboden verschluckt. Ich rannte hin und her, suchte alles ab, vergeblich. So wie neulich in der Nacht.«
»Das heißt, wir sind so weit wie vorher«, sagte Braig enttäuscht und dachte: Falls es überhaupt stimmt, dass er die Frau gesehen hat. Falls er sich nicht nur wieder bei uns wichtig machen will.
»Nein, das sind wir nicht«, entgegnete Bareiss.
»Wieso? Haben Sie die Kassiererin nach ihr gefragt, ob sie sie kennt?«
»Natürlich habe ich sie gefragt. Was glauben Sie denn? Sie sitzt hier, keine fünf Meter von mir entfernt. Ich stehe am Eingang des Ladens. Sie kennt sie nicht, leider. Aber mir ist eingefallen, wie wir sie trotzdem identifizieren können.«
»Wie soll das funktionieren?«
»Sie hat mit Karte bezahlt.«
»Mit Karte?« Braig verstand sofort, was das bedeutete. »Das wissen Sie genau?«
»Ich habe gesehen, wie die Kassiererin sie ihr zurückgab. Leider weiß ich die Zeit nicht mehr ganz genau. Etwa um 17.40 Uhr. Plus minus fünf Minuten. Um diese Zeit war aber nicht viel Betrieb. Und mit Karte haben heute Abend nicht viele bezahlt, hat mir die Kassiererin bestätigt. Da kann es doch nicht schwer sein, die Daten der Frau zu ermitteln.«
»Wie lange hat der Laden offen?«
»Bis 20 Uhr, ich habe mich erkundigt.«
»Das ist gut«, sagte Braig. »Danke für Ihren Anruf. Ich kümmere mich um die Sache. Jetzt sofort.«
13.
Jetzt sind Sie also endlich dabei, diese Zeilen zu lesen. Sie sollten sich Zeit nehmen, sie ausgiebig studieren. Es wird einer der letzten Briefe sein, die Sie in Ihrem zu Ende gehenden Leben zu Gesicht bekommen. Was der Mensch sät, wird er ernten. Sie haben das Unheil gesät. Es ist höchste Zeit, dass wir jetzt zur Ernte schreiten. Sie werden nicht ungeschoren davonkommen. Sie nicht. Ihnen soll es nicht anders gehen als uns.
Sie haben das Leben unserer Familie zerstört. Jetzt werden wir Ihr Leben zerstören. Es ist höchste Zeit, dass Sie zur Verantwortung gezogen werden.
Unser Leben verlief in geordneten Bahnen. Zufriedenstellend und glücklich. Nicht immer unbeschwert, aber erträglich. Mit einigen Missklängen und Niederungen, aber auch vielen kleineren und länger anhaltenden Höhepunkten. So wie bei den meisten anderen Menschen wohl auch. Dass die Katastrophe über uns hereinbrach, haben Sie zu verantworten. Sie an allererster Stelle.
Verantwortung, werden Sie sagen, was soll dieser Begriff?
Verantwortung übernehmen für das, was wir tun: Eine Ihnen völlig unbekannte Haltung, ich weiß. Verantwortung für mein Handeln, werden Sie sagen, weshalb denn? Profit und Macht sind das Einzige, was Ihnen wertvoll scheint, Profit und Macht zu vermehren das Ziel all ihres Tuns. Verantwortung steht dem nur im Weg. Um Gottes Willen, welcher weltfremde Versager glaubt sich denn noch an solch altmodische Vorstellungen gebunden? Die Zeiten sind längst vorbei – wenn es sie je gab – wir atmen den Fortschritt und öffnen ihm alle Türen, machen ihm den Weg frei mit unserer Politik. Dem Fortschritt zu mehr Profit und noch mehr Macht.
Mag ja sein, dass ein paar Versager dem nicht gewachsen sind, sondern auf der Strecke bleiben. Das war schon immer so, werden Sie sagen, aber sollen wir dieser Jammerlappen wegen etwa unseren Weg in den Fortschritt aufgeben? Auf noch mehr Profit und Macht freiwillig verzichten? Nein, das entspricht nicht unserer
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